1.5.
Morgens Schnee, und ich lasse mir Zeit mit dem Weitertrebbeln. Es ist kalt, aber sonnig, im Schatten von Kiefern, Buchen und Birken bleibt der Schnee liegen, runde Granitfelsen rocken, die Straße ist einsam, ein karges großes schönes Hochland, Aubrac heißt es. Bäche schlängeln sich hindurch, aus denen Kühe im Winterfell trinken, Pferde sonnen sich in den Lichtstreifen, die zwischen Kiefern und Birken fallen. Die Tiere liegen auf ihrer braungrünen Weide. Dachte immer, Pferde würden im stehen schlafen. Steinerne Brücken und Häuser sind von Moos und Steinpflanzen bewachsen. Kalt es ist, sehr kalt.
Menschen: Die gütige Herbergsmutter frage ich, wie man die kleinen weißen Stiefmütterchen nennt, Pensees, sagt sie, wie die Gedanken.
„Aber was denken sie?“ frage ich, „Das ist eine sehr philosophische Frage“, antwortet sie sehr philosophisch.
Zwei junge Franken hat der Schnee ebenso in die Herberge getrieben. Ein großer Roter und ein kleiner Schwarzer, der große studiert Philosophie. Er meint: „Im Grunde ist jede Frage philosophisch.“ Er ist unsicher und stets in Rechtfertigungshaltung wie jeder mit einem solchen Studium, ich mache ihm Mut, seinen Weg weiterzugehen.
Es gibt Löwenzahnsalat mit Speck und Äpfeln, dazu Hühnchen mit Grütze. Wir entdecken einen weiteren Sinn des Pilgerns: Ideen erkunden Ideen weitertragen. Missverständnisse abbauen: Erinnerte mich daran, wie mich in Le Puy eine ältere Deutsche antippte und vorsichtig fragte, wovon der Herbergsvater ununterbrochen quasselte. Ich erklärte ihr, dass „Tampon“ im Französischen einfach nur Stempel bedeutet, und dass es um den Pilgerstempel ginge,
Die Franzosen erzählen mir, dass man im Mittelalter jemand bezahlen konnte, der für einen pilgerte und die Sünden abbat. Ich scherze, dass wir uns bei dem Wetter alle einen Platz im Paradies verdient hätten, sogar mit Balkon. Erkenne, dass das Geschäft mit der Angst das sicherste Geschäft ist. Nicht umsonst haben Versicherungen, Angst vor der Verlust, und Banken, Angst vor Dieben, die sicherst ökonomische Basis. Ich überlege, wie ich ins Angst-Geschäft einsteigen könnte. Es scheint eine Verkettung zwischen Angst und Macht zu geben, hier müsste ich ansetzen. Ab wann bedeutet Angst vor jemand Macht für jemand, und ab wann bedeutet Macht Angst. Flugs eine Dissertation drüber geschrieben. Erinnere mich an Elias Canetti, der die Philosophie der Macht geschrieben hatte und mit der ultimativsten Angst, der Angst vor dem Sterben, die Machtverhältnisse und vor allem den Faschismus erklärte.
Daraus folgt, dass die ureigentliche und allein mögliche Emanzipation des Menschen das Heraustreten aus der Angst ist.
Ambivalent ist die Rolle der Kirchen: Einerseits befreien sie von dieser grundlegendsten Angst, der Angst vor dem Sterben, andererseits operieren sie mit der Angst, der Angst vor göttlichen Strafen und der Sünde.
Merke: Emanzipation ist schlecht fürs Geschäft.
Am Morgen hatte der Franke Sinatras „I did it my way“ laufen lassen, wie jeden Morgen. Mit seinem Holzstock, der Kapuze und dem roten Gesicht sieht er aus wie eine Gestalt von Breughel, Ich war noch in der Kirche von St. Alban gewesen, um zu warten, bis der Himmel blaute.
In der Kirche von Aumon-Aubrac platze ich in den Gottesdienst und feiere die Messe mit. Der Pfarrer betet für den Ersten Mai und die Arbeiter der Welt. In der Befreiungstheologie fühle ich mich am meisten Zuhause. Wären die Linken nicht so wütend antiklerikal gewesen: Was hätten sie erreichen können? Jetzt, eine vergangene Epoche der Geschichte, vom Neoliberalismus überrollt. Ein Pilger, vielleicht 25, mit Augen, die einem Pfarrer gehörten müssten und den ich in Sauges traf, ist ebenfalls in der Kirche, auch ihn hat es mit der Achillessehne erwischt, so dass er trampen musste. Er geht beichten, ich Biertrinken. An der Hauptstraße ist Betrieb. Dort ist die Feuerwehr beschäftigt, die Trümmer eines Kamins zu beseitigen, den der Sturm auf die Hauptstraße wehte.
Wegen des Sturms ist eine vielleicht 70-Jährige Frau völlig durch den Wind. Sie will ein Taxi haben nach Le Puy, immerhin über 100 Kilometer. Weil Feiertag ist, kriegt sie kein Taxi, sie redet wirr von einem Pass, den sie gefahren ist, sie ist Deutsche, und mein schwäbisches: „jetzt hocket se sich ersch amol no“, bringt sie wieder auf den Boden, genauer auf den Hosenboden. Ich flöße ihr Tee ein. Sie erzählt, dass sie auf dem vereisten Pass mit ihrem E-Bike gestürzt ist, und jetzt völlig ausgefroren und am Ende ihrer Kräfte nur noch mit dem Taxi weiter wolle. Nachdem ich sie beruhigt habe, erkläre ich ihr, es wäre am besten, einen Tag hierzubleiben und auf besseres Wetter zu warten. Was sie auch einsieht. Sie gibt mir ein neues Wort: Der Wind hat genadelt, sagt sie zum Schnee, der ihr ins Gesicht flog.
Noch ein Gedanke: Die Angst scheint hauptsächlich eine Angst vor Verlusten zu sein. Der Verlust von Prestige, Geld, Gesundheit, Leben, von Menschen. Das Pilgern jedoch lehrt, loszulassen. Im Grunde ein Kurs, ein Dis-Kurs gegen die Angst.
Jetzt über die Aubrac, ein etwa 1000 Meter hohes Plateau, das genauso in Norwegen oder Schottland stehen könnte, der Wind rollt über uralte Steinmauern, die riesige Herden von wilden Narzissen hüten, manche zyklopenhaft groß, dahinter wenige muskulöse Kühe. Dann ein ganz ganz seltener Anblick, eine einzige wilde Tulpe zwischen dem Heidekraut.
Stiefmütterchen und Anderes lassen mich kurz rasten. Echt schwierig mit steifgefrorenen Fingern, Ich sollte Hosenläden mit Hakenverschluss erfinden. (Hose Eskimo spezial)
Die Landschaft ist so leer, dass sie voller Himmel wird.
Hinten sind die Gipfel des Massiv Central ganz im Schnee. Eine Gruppe Fußgänger spaziert auf der Straße, natürlich Erster Mai. Die Heide ist sumpfig, Rinnsale schwemmen das Grau zwischen die Halme. Die Wolken lassen die Steine grauer werden, die Dörfer sind manchmal kaum vor dem Hintergrund des Himmels, den Bäumen, zu erkennen. Immer wieder erstaunlich, wie schnell sich der Körper gewöhnt auch an die Kälte, meine Hände bleiben warm, den ganzen Tag, obwohl es nicht mehr als fünf Grad hat. Ich muss den Hut festhalten, der Wind scheucht mich vom Kurs weg, im Zickzack über die Straße. Der Wind rüttelt an den Gräsern und weht einen Zaun um, die Pfosten senken sich wie Bajonette. Es geht höher, eine Zeitmaschine, die mich in den Vorfrühling zurückbringt: Anemonen nicken, Sumpfdotterblumen brechen hervor, große Malvenrosetten fläzen sich am Straßenrand. Die Birken wollen austreiben.
Ich denke mir einen Witz aus: Treffen sich zwei Rennradler in den Alpen. Fragt einer, „Wie war den Tag?“ Sagt der andere: „Hat Paß gemacht“.
Die Aubrac bewirbt sich als Langlaufparadies. An Hütten und Hinweisschildern fahre ich vorbei bis nach Nabinals: Steinhäuser um eine romanische Kirche, viele Pilgergeschäfte.
Dort gibt es ein öffentliches Gite, man schmeißt seinen Rucksack auf irgendein Bett, bis abends eine städtische Bedienstete kommt, die kassiert. Hier in dieser alten Baskengegend müsste man wohl Rucsac sagen, flugs eine neue Cognacmarke für Wanderer erfunden und verkauft, (Rucsac wärmt den Buckel).
Ein Pilger aus Paris ist gestrandet mit schrecklich zugerichteten Füßen, aus beiden Zehenballen guckt das rohe Fleisch raus. Er will einen Tag pausieren, aber erst, nachdem ihm das ganze Gite gut zugeredet hat. Er rät mir, eine Spezialität der Gegend zu versuchen. Aligot: Kartoffelpüree mit Frischkäse zu einer fadenziehenden Masse verrührt. Dazu gibt es wieder gigantische Rindfleischbrocken und Salat mit Speck.
Ein Italiener beschäftigt die Pilger, jeder hat ihn gesehen. Nur mit einer kurzen Jogginghose und Badelatschen, einer Jacke und kleinem Tagesrucksack pfeilt er den Weg mit einer enormen Geschwindigkeit nach Westen. Ich treffe ihn kurz auf der Straße Bar, er sieht nicht rechts noch links, seine Beine laufen wie Pleuelstangen in den Abend hinein.
2.5
Aumon-Aubrack Espalion
Morgens nach Kirchenbesuch und Gebeten holpern mir Gundermann-Verse durch den Kopf, die ich umdichte, damit sie mir besser gefallen: „so muss ich denn mein Liebe all versagen, und weiterhin durch alle Lande ziehn.“
Über den Col Aubrac. 1340 Meter, das ist fast so hoch, wie die der Pyrenäen-Paß, der noch vor mir liegt, mit 1470 Metern, überhaupt scheint das Massiv Central viel schwerer zu begehen als die Pyrenäen, einfach weil es viel größer ist.
Von dort geht es hinab ins liebliche Tal des Lot, ein Flüsschen, das mein Reiseführer als das romantischte in Frankreich preist, dabei hat der Lot im Doubs einen starken Konkurrenten. Allerdings erfreute mich der Lot, alleine schon wegen seines Namens, lange bevor ich mich an seinen Gestaden erquickte: Lot heißt im Okzitanischen Olt und damit hat er eine astreine labiale Metathese. Noch schöner und klarer als englisch Horse und deutsch Ross.
Wandele bissle neben der Kappe durch Espalion, Kleinstadt mittelalterlich, gotische Brücke und ein Gerberviertel mit den Balkonen und Steinstufen zum Fluss. Ich muss feststellen, dass die Kneipen um 19 Uhr zumachen. Eine französische Pilgergruppe schließt mich ins Herz und lädt mich zum Essen ein, das sie im Gite gekocht hat. Neben mir eine rundäugige, rundköpfige rundbauchige Frau, die wunderbar erzählen kann. Etwa von Kanadiern in ihrem letzten Gite, einem Ehepaar, „und das war eine eine Porcherie, eine Schweinerei, sage ich euch, wie ein Schwein schnarchte der, ich sage euch, Chhiri, chrrrr, wie ein Schweinerüssel und ich hab mir zwei Ohrstöpsel reingetan und das hat nichts genützt, und dann habe ich mir einen Pullover über den Kopf gezogen, und das war sinnlos, und dann habe ich die Decke über den Kopf gezogen, völlig umsonst, und dann habe ich das Licht angemacht, und dann hab ich gesehen, dass ein Koreaner überhaupt nicht schlafen konnte wegen denen, sondern im Schneidersitz auf dem Bett meditiert hat, und dann hab ich meine Decke genommen, bin zu dem Mann, diesem Schwein hin, und hab ihm die Decke über mit voller Wucht über den Kopf gehauen, und dann wacht er auf und sagt, „Was, hä, wie?“
„Und dann?“
„Dann hab ich gemerkt, dass es seine Frau war, die geschnarcht hat wie ein Schwein.“
3.5
Espalion – Conques
Der Erfinder des Taucheranzugs kommt aus Espalion und der etwas regungslose Fußgänger, der mir am Lot-Ufer aufgefallen ist, war eine Statue, die an ihn erinnerte. Die Franzosen erklären mir, er hätte den Anzug wegen der Minen erfunden, als Rettungsgerät unter Tage.
Es gibt ein Skaphander-Museum, das allerdings zu ist, und also ich lasse es gemächlich den Lot hinab rollen.
Beim Frühstück hatte die ganze Pilgertruppe die Nase nicht in der Kaffeeschale, sondern daneben, weil auf den Papierplatzdecken eine Landkarte aufgedruckt war. Schnell ein neues Zeitungsformat erfunden und den Franzosen unter den Frühstücksschale gelegt und damit Millionen gemacht. Bol nennt man die großen Kaffee-Eimer, ich werde gefragt, wie sie auf Deutsch heißen und die Franzosen sind bass erstaunt, dass es sie in Deutschland nicht gibt.
Ich bin jetzt einen Monat unterwegs. An mein früheres Leben kann ich mich kaum mehr erinnern. Der Weg ist groß geworden in mir mir, wieder. Das ist nicht nur das meditative Treten im ersten Gang auf den Landstraßen, es ist auch das Gefühl, Teil zu sein dessen, was seit 1000 Jahren die Menschen nach Westen gelockt hat. Vielleicht dringt es aus diesen Straßen, denn das sind ja die Wege, die die Pilger wirklich benutzt haben und nicht die Wanderwege, auf denen heute die Heerscharen pilgern.
Das Tal des Lot bläht sich in Grün auf, eine grünes Lauffeuer von Frühling weht mir entgegen, südliche Bäume sehe ich, Buchs und Ulmen. Davor wachsen Klappertöpfe, fast schon triviale Hahnenfüße; Engelsüß und Wolfsmilche nicken mir zu, Ragwurze ragen empor und verraten mir endlich, warum sie auf so einen seltsamen Namen hören. Lange raste ich an einer kleinen Kapelle, die zu Ehren eines toten Jünglings errichtet wurde, der am Strand des Lots ertrank, als er zu seiner Geliebten wollte. Die jedoch hatte die Brücke einreißen lassen, damit ein böser Mann, mit dem sie hätte vermählt werden sollen, nicht zu ihr konnte.
Überlege mir noch mal das Geschäft mir der Angst. Man könnte Ehen versichern, haut die Frau ab, dann liefert die Versicherung eine Neue.
Ich hätte das Tal nicht verlassen sollen, deswegen erreiche ich Conques nach einer wilden Bergetappe, die mich geradewegs ins Auenland führt. Allerkleinste Häuser kleben an Mauern, Türmchen wachsen aus Gärten empor, bedeckt mit breiten Steinplatten, die Straßen sind kaum breiter als ein Kinderwagen, Abendsonne lässt die Mauern erröten und webt Schattennetze in den Mauerritzen. Die romanische Kirche ist die schönste, die ich je gesehen habe. Ganz hoch, ganz licht. Zum Abendgebet der Mönche hat sich eine Pilgergruppe versammelt, vor allem Frauen mit diesen Gesichtern wie sie nur Christinnen haben, kurze Haare, dicke Brillen, spitze Nasen, zerstört durch lebenslange Selbstzweifel und Gewissensbisse.
Vier Mönche sind es noch. Der Vorsänger singt der Orgel entlang, locke sie auf den Pfad der Töne, kehrt zurück, um auf sie zu warten, verschmilzt mit dem Klang und mit seinem eigenen Echo.
Ich schließe die Augen zum Gebet und sehe Blumen und Blätter, Licht das durch Grashalme fällt, dann öffne ich die Augen und die Säulen des Kirchenschiffs schwanken und neigen sich wie Bäume im Wind.
4.5.
Diese Explosion von Grün fegt mir durch den Kopf. Nach den kargen Tagen im Aubrac hat die Temperatur Menschen und Blumen herausgelockt. Heutekruat färbt die Berge in dunkle rostfarben, so dass sie aussehen wie Schlackenhalden, aus denen die Grünen Flämmchen kleiner Buchen züngeln. Später werden, die scharf in den Fels geschnittenen Täler weicher, breiter, lassen Platz für Siedlungen und Weiden. Morgens 13 Grad, mittags 18 Grad. Ich ess nichts anderes mehr außer Käse, Wurst und Brot. Kann mich noch erinnern, wie ich anfangs der Tour mir Fischbüchsen zwischen die Kiemen schob, wegen der vielen Omega 3 Fettsäuren, die die Muskeln stärken, stand zumindest auf der Büchse. Von einer Büchse mit weichem undefinierbarem Inhalt, die wie eingelegte Hirnmasse aussah, wurde mir dermaßen schlecht, dass ich die Fische mitsamt ihrem Omega bis zum Alpha Centauri wünschte.
Sitze morgens in Conques noch ein Weilchen in der Sonne, auf diesem Tauchgang ins Auenland. Friedlich gepflasterte Straßen, auf allen Mauern wachsen Steinpflanzen, das Gite war rustikal, aber bequem, neben mir machen sich die Pilger startklar.
Zeit für eine erste Qualifizierung:
Der Phantom-Pilger. Man bekommt ihn nie zu Gesicht. Wenn man abends nach seinen wohlverdienten Bieren aus der Kneipe schwankt, in der man zuvor eine nette schwäbische Pilgertruppe getroffen hat, liegt er schon im Bett und schnarcht. Morgens um sechs springt er von der Matratze Bett, raschelt seine Sachen zusammen, trippelt unentwegt die Treppenstufen des Gites auf und ab, bis das ganze Gebäude dröhnt und eilt dann kurz vor Sonnenaufgang aus dem Haus. Würde man den Phantom-Pilger je fassen können, dann würde man sagen, er ist ein bisschen verrückt
2) Der Joggingpilger: Der Jogging Pilger hat sowieso nicht mehr alle Tassen im Schrank. Mit seinem gestählten, durchtrainierten Körper und völlig intakten Achillessehnen, sowie eisernen Kniegelenken fällt er durch sein Trinksystem auf, das in er in vielerlei Ausprägung mit sich führt. Als weißen Urinschlauch, der aus dem Rucksack ragt, oder als Flaschensystem, das er in einem Beutel vor der Brust trägt. Er hat lange Jogginghosen und hat gute Laune, denn jetzt steht er wieder vor einer Etappe, die er ohne Probleme bewältigen kann. Sein Rucksack besticht durch ein ausgeklügeltes Tragesystem und wiegt vielleicht drei Kilo.
3) Der Marathon-Pilger. In Figeac traf ich einen: Er hatte durch die Drogen erst seine Zähne, dann den Verstand verloren, machte 53 Kilometer am Tag und die 1500 Kilometer lange Strecke von Le Puy nach Santiago in einem Monat. Sonst war er nett. Ob ich das auch kennen würde, dass auf dem Weg immer jemand sei, der einen beobachtete. Verfolgungswahn, kein Wunder sind die Typen so schnell.
4) Der Gruppenpilger. Der Gruppenpilger ist meist Teil einer gemütliche Rentnertruppe, die den Weg in Abschnitten macht, jedes Jahr einen, und man fragt, sich ob die alle noch lang genug leben werden für die letzte Etappe. Für den Gruppenpilgerer hat der Weg eine sportliche und eine religiöse Komponente. Er besucht die Kirchen und die Messen, ist meist gutgelaut, wenn es Bier gibt und das Essen rechtzeitig kommt. Er hat einen hölzernen Wanderstock, einen olivfarbenen Stoffhut und einen Anführer, der ihm erklärt, wo er lang muss, der Gruppenpilger ist nur leicht meschugge.
5) Der Normal-Pilger. Er ist soeben ins Rentenalter eingetreten und benutzt den Weg, um Abstand vom Berufsleben zu gewinnen. Er hat eine Hose, die sich mit mehreren Reißverschlüssen ringlesweise einkürzen lässt. Er ist nie ohne seine Frau unterwegs, die eine ähnliche Hose trägt. sie hat einen hübschen Schal als Kopfbedeckung, der Mann trägt eine Schirmmütze, meist haben sie die Rucksäcke im Partnerlook. Sie sind sehr langsam unterwegs, Denn sie haben ja Zeit und sich lange auf den Weg gefreut. Verrückt, ist es doch, er sollte doch lieber seinen Ruhestand genieren, anstatt wie eine Gemse durch die Berge zu hüpften.
6) Der Lebenskrisen-Pilger. Er hat das alles hinter sich gelassen. Sobald er zurück ist, verkauft er seinen Betrieb. Bisschen verrückt, aber auch verständlich.
7) Der Ich-Pilger. Er trägt leicht abgeschabte Kleidung, weil er schon ein Weilchen unterwegs ist. Große Menschenansammlungen sind ihm nach Wochen der Einsamkeit etwas zuwider, deswegen wartet er, bis die Gites leer sind, ehe er aufbricht. Er trägt eine indiskutable grüne Kniebundhose und ein uraltes Pfadfinderhemd, dazu rot weiße Stutzen von seiner Thekenmannschaft, in der er es bis zum Torwart gebracht hat, weil er nicht kicken kann. Der Ich-Pilger ist mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs, weil er in Santiago auch irgendwann mal ankommen will. Er ist der einzig normale in dem ganzen Haufen.
In Figeac beschließe ich, eine Frau dazu aufzufordern, mit mir über den Stein von Rosette zu tanzen, der hinter dem Champollion-Museum treppenförmig in schwarzem nubischem Granit nachgebildet ist. Da steht sie schon, die Frau, mit der ich tanzen werde. Hübsch ist sie in ihrer schwarzen Strumpfhose, dem Rock mit Rüschen, der schwarzen weiß gepunkteten Bluse, ein roter Gürtel setzt einen Farbakzent, den ihr Lippenstift im Gesicht wieder aufnimmt. Welche Eleganz. Verschämt blinzelt sie her.
Ich werde zu ihr sagen: „Verehrteste, Schönste, sicherlich wissen Sie, dass Jean-
François Champollion (1790-1832) mit seinem scharfen Verstand, der so scharfgeschnitten war, wie dieser Granit hier, aus einem Stein, den die Truppen Napoleons in einer Mauer gefunden hatten, und der hieratisch, demotisch und griechisch beschriftet ist, namentlich dieser Stein von Rosette ist, dessen Nachbildung Sie hier sehen, dass also dieser Mann zusammen mit einem koptischen Priester mittels dieses Steines die Hieroglyphenschrift entziffert hat, und damit der Philologie Werkzeuge in die Hand gegeben hat, die sie immer noch benutzt, um unbekannte Texte zu dechiffrieren und darüber hinaus der Altertumsforschung ein Tor geöffnet hat, durch das sie nun 3000 Jahre länger die Geschichte der Zivilisation betrachten kann, und damit auch die Wissenschaft der Ägyptologie und der Altorientalistik ermöglicht hat. Aber nicht nur das“, werde ich sagen, während ein Lächeln des Verstehens ihren sinnlichen Mund umspielt, „nicht nur das, sondern dass ich an einem Opus Magnum, einer Romantrilogie, arbeite, die der „Felsentänzer“ heißt, und aus diesem Grund möchte ich Sie zu einem Tanz über diese Granitplatten auffordern.“
Natürlich habe ich mich nicht getraut, sie zu fragen. Dann guckt dir den Stein halt alleine an, du blöde Kuh.
5.5.
Figeac – Ruhetag.
Endlich kann ich wieder zwei, drei Treppenstufen laufen, ohne zu humpeln. Mein Ladegerät ist ausgestiegen, für einen Pilger heutzutage ein Totalschaden und weil Feiertag ist, kann ich mir nicht einfach ein Neues kaufen. Die Frau neben mir in der Kneipe war zu überrumpelt, um nein zu sagen, als ich sie bat, meinen Stecker in ihre Steckdose am Laptop stecken zu dürfen. Jegliche anzügliche Gedanken beim Lesen dieser Zeilen verbitte ich mir.
Ein Pilger aus München kann nicht mehr weiter und wir trinken Kaffee am Morgen und reden über unser Leben, vieles gleich gelaufen, gleich schlecht, gleich gut. Die Reisen in der Jugend, die Trennungen. Der Sinn des Pilgerns: Raum schaffen für Wendepunkte.
Die Etappe gestern nach Figeac war heftig, musste in der Hitze einen ewig langen Anstieg hochschieben, während hinter mir die Autos brausten. Allein ein 2CV Konvoi, der alle möglichen Ausführungen von Döschöwöhs auf der Straße versammelte, machte die vielbefahrene Landstraße erträglich. Etliche mit Boots- oder Zeltanhängern, auch Dyanen, Kastenwagen, Strandausführungen, in denen ältere Männer und Paare saßen, die vielleicht nicht nur ihre eigene Seele suchen sondern auch die der Gesellschaft.
Die gutmütigen Entenfahrer grüßen mich eisernen Pilger mit Strohhut und Klapprad als einen der ihren. Was ist eigentlich aus unserer Gesellschaft geworden, wo ist das Lebensgefühl hin? Einfach das Sardinenbüchsendach der Ente runter gerollt, den Schal umgebunden und Sonne hineingelassen ins Leben und mit 90 über die Landstraße, reicht auch. Bin schon wieder bei der Kapitalismus-Kritik, für den Preis eines Cabrios heute könnte man sich vier Enten kaufen. Was haben die 80er Jahre nicht alles an Träumen, Fluchten, Hoffnungen mit ihrer Ökonomisierung zerstört und verbaut: Muss lange im Gedächtnis kramen, bis mir die Schlagworte der Epoche wieder einfallen. Die Dinkys gab es, und wie hat man diese Typen genannt, die von morgens bis abends gearbeitet haben? Mir will es nicht mehr einfallen. Vollidioten? Es muss irgendwas Englisches gewesen sein. Workaholics? War es wohl auch nicht. Nachher googlen? Nein.
Streife durch Figeac wie durch einen Traum. Die verschiedenen Schriften der Menschheit leuchten auf Goldfolien vom Museum auf den Marktplatz herab. Die Stadtfräulein blicken auf den Kerl, der sich eine Zigarre schmecken lässt und an der besten Kindergeschichte der Welt schreibt. Eine lächelt.
Bin unbeschwert, wie seit meiner Jugend nicht mehr.