14. 05.
Navarrenx – St. Jean Pied de Port
Im Pyrenäenvorland wird die Landschaft wieder hügeliger, auf und ab, sehr steil, und ich bin froh, auf eine einigermaßen gute Straße zu kommen, mit einigermaßen breitem Bankett. Unter drei Eichen raste ich, es gibt die guten getrockneten Würste, dazu Käse, also Fett, Eiweiß, Salz. Gigantische Regenwürmer gibt es hier, gut fingerdick. Noch 29 Kilometer bis St. Jean-PIied-de-Port, Regen feuchtet das Land, tropft mir die Brille zu. Ich stecke sie in die Tasche weg damit und freie Sicht. Die Autos hupen, um mich anzufeuern, Motorradfahrer glotzen, Schafe blicken auf. Sacht geht die Straße aufwärts. Alles tut der Mensch zum letzten Mal, denke ich. Hier in St. Jean Pied de Port werde ich mein Fahrrad losschicken. Muss nie wieder umständlich meinen Rucksack auf den Gepäckträger schnüren, muss nicht mehr dasTrumm die Berge hochwuchten, nicht mehr mit steifgefrorenen Beinen über den Rahmen klettern, um anzufahren.Jetzt also mitten im Baskenland. Große Patrioten, wie die Basken sind, wird mir der baskische Kuchen und der Brebis empfohlen, milchiger Schafskäse, der super in den Magen passt. Ich lerne: Patriotismus bedeutet auch, die Vielfalt erhalten. In Tübingen, wo man nicht zwischen Patriotismus, Nationalismus und Nationalsozialismus unterscheidet, wäre das Lob des Patriotismus nicht möglich. Hier schon: denn der baskische Patriotismus hat mit dem Baskischen eine der wenigen vorindogermanischen europäischen Sprachen erhalten, während das benachbarte Aquitanisch und Vasconisch ausgestorben ist. Patriotische Schafe weiden an den Hängen der Pyrenäen. Ich erinnere mich daran, was mir Fritz The Cat erzählt hat: Er glaubte, das Französische sei eine Sprache der Poesie, das Italienische, jene Sprache, in der man am besten singen könne, und das Deutsche sei wie keine andere Sprache dazu geschaffen, Technisches auszudrücken. Das erinnerte mich an jenen Kaiser, war das Carlos Quintos, oder Maximilian, der soundsovielte, der sagte, er spreche mit den Damen französisch, vor Gericht Latein, und befehle auf Deutsch. Das heißt, der Sprache, wird jeweils jene Eigenschaft zugemessen, die gerade mit dem herrschenden Nationalvorurteil einhergeht. Dann nun Deutsch die Sprache der Technik geworden ist, scheint sich die Reputation im Ausland merklich gebessert zu haben. Baum mit Wasseranschluss:
Städte liegen in Tälern, und auf der letzten Anhöhe vor St. Jean Pied de Port, wo es nach St. Jean le Veux abgeht, sehe ich zum ersten Mal die Pyrenäen. Regenvorhänge geben die Berge frei, wie frisch enthüllte Denkmäler. Sie erheben sich vor den Regenschleiern, ernst und gelassen, und ich kann es kaum fassen, endlich vor diesem Gebirge zu stehen, das ich immer kennen lernen wollte. Grüne sanftspitzige Riesen, die sich über Regen freuen, der ihre Wiesen tränkt. Die Pilger auf dem Weg sind glücklich, dass sie nach wer weiß wie vielen Wochen die Stadt erreicht haben, so wie ich. Wir feuern uns an, und ich hole was geht, aus dem Klapprad raus und fahre fröhlich klingelnd an ihnen vorbei.
St. Jean-Pied-de-Port ist ein ganzes Heerlager aus Pilgern, die aus der ganzen Welt kommen. Mit ihren Träumen und Hoffnungen an den Weg machen sie das Regenwetter vergessen. Die Altstadt ist ganz nah an eine Zitadelle gedrückt und besteht aus einer steilen Straße, an deren Rändern die Gites und die Kneipen aufgefädelt sind. Vermutlich ist wegen Pfingsten alles belegt. Vom Pilgerbüro, in dem sechs Mann ununterbrochen schuften, steht eine Schlange von Rucksäcken mit Beinen unten dran in die Gasse. Ich bekomme ein letztes Bett in einem Gite. Mein Inneres sträubt sich dagegen, aber der Regen und die Müdigkeit unterdrücken die Innerre Stimme und wie immer wäre es besser gewesen, auf sie zu hören. Die Herbergsmutter ist total durchgeknallt: „Zen Buddhismus Gite“ heißt der vollgestellte Müllhaufen, in dem sie mit zehn Katzen und zwei Hunden schläft, schon im Salon stinkt es nach Katzenpisse. Man kann an keiner Türklinke ziehen, ohne nicht wenigstens die Hälfte des Türschlosses abzureißen. Eine Amerikanerin ist mit zwei Töchtern unterwegs und will mit mir zur Messe. Als wir zurückkommen, hat die Herbergsmutter mein Fahrrad auf den Gang gezwängt, einen meiner Wanderstock vor die Tür gelegt, und der ist natürlich jetzt geklaut. Sie weiß von nichts und erzählt mir irgendeine Geschichte. Die ganze Nacht krähen die Hähne, in ihrem Hühnerhof, es miauen die Katzen und ich schlafe bloß stundenweise. Ich denke an Joan Baez: Buddhismus ist just another way of nothing left to loose – – – – Wobei sich das nothing left bei dieser Frau eindeutig auf den Verstand bezieht.
Beim Pilgermenü in einer Kneipe setzt sich eine Italienerin neben mich, die es schafft, sich mit drei Wörtern Englisch, zwei Wörtern Spanisch und etwas Deutsch, eine Stunde lang mit mir zu unterhalten. Merke: Wenn man sich verstehen will, dann versteht man sich auch. Daraus folgt: Alle Missverständnisse sind ihn Wirklichkeit Absicht.
Mein Handtuch riecht inzwischen so schimmlig, dass ich es nur noch wegwerfen kann. Abends ein trauliches Beisammensein mit Zen Buddhismus, sechs Katzen, zwei Hunden, einem Fernseher.
Aus einem T-Shirt schneidere ich mir ein neues Handtuch und nähe einen Aufhänger dran. Weil es keine T-Shirts mehr gibt, auf denen nicht irgend ein Unsinn mit „fun“ und „adventure“, und „explore“ seht, schneide ich diese Wörter aus dem Stoff und nähe sie vorne auf die Unterhosen, damit ich im Halbdunkel der Schlafsäle nicht immer mühsam in den drei Löchern der Hose nach den richtigen suchen muss. Währenddessen sitzt die durchgeknallte Herbergsmutter auf dem Sessel vor einem Kaminfeuer und schnarcht, während Voices of France läuft. Hin und wieder erwacht sie, wenn irgendeine Katze mit irgendeinem Hund Streit anfängt.
15.05
St. Jean-Pied-de-Port – Ruhetag.
Endlich hab ich das Rätsel der zu kurzen Papiertüten für die zu langen Baguettes gelöst, ein gutmütiger dicker Elsässer hat es mir beim Abendessen erklärt: „Na die Papiertüten werden zu heiß gewaschen!“ Eine neue Gruppe von Wanderern ist in meiner neuen Herberge eingetroffen. Hier ohne Katzen und ihre Pisse will ich mich zweit Tage ausruhen. Da Pfingsten ist, muss ich auch noch den Montag in St. Jean bleiben, weil die Post erst wieder am Dienstag öffnet, um mein Fahrrad wegzuschicken.
Morgens floh ich mehr, als das ich abreiste. Um mich zu sortieren, gehe ich in die Messe. Sie kommt mir spanisch vor, war aber baskisch. Während in den meisten Gottesdiensten stets dünne Frauenstimmen dominieren, schmetterten hier die Männer die Hallelujas gegen die Kirchenmauern wie Pelote-Bälle.
Wandere etwas verloren durch die Straßen und fragte an der ersten offenen Tür nach einem Quartier. Dass ich dabei das beste in der ganzen Stadt gefunden habe, sehe ich als ausgleichende Gerechtigkeit. Ein britisches Ehepaar unterhält ganz familiär, den Laden, der aus dem Vermächtnis einer frommen Frau gestiftet wurde. Blitzsauber und sehr unkompliziert, „das sauberste in der Stadt“, sagt Paul, der Herbergsvater.
Danach klappere ich die Läden ab nach großen Kartons, finde aber nichts, nicht mal im Supermarkt, doch stoße ich auf eine Entsorgungsstation, in der ein schon ein Handwerker-Ehepaar-Bauarbeiter nach Kartons wühlt. Ich schleppe vier davon durch die ganze Stadt und lasse sie im Hof der Herberge vom Regen trocknen.
Schlendere durch die Läden, schöne dicht gewobene Stoffe haben Sie hier, ideal für Möbel. Tolle Weine, Baskenmützen locken zum Kauf, an jeder Ecke kann man Ausrüstung kaufen. Oder es lassen. Der Sinn des Pilgerns: Sich nichts mehr aufhalsen.
Zeit für die beste Kindergeschichte der Welt, die bald so rund ist wie eine Murmel. Bloß weiß ich nicht, ob ich sie nicht unter den Händen zu gewalttätig gemacht habe. Beim Schreiben vergeht der Tag, Stunden, die fliehen und doch zählen. Unterdessen verlassen Heerscharen von Pilgern die Stadt, neue kommen an. Manche mit tastenden Schritten, als könnten sie gar nicht fassen, dass sie jetzt endlich in dieser Stadt sind. Manche gehen schnurstracks in die Kirche, und das erinnert mich daran, wie ich glücklich ich gestern war, dieses Ziel zu erreichen.
Auch seltsame Leute sind da: Deutsche Bettelpunks mit zwei Hunden, ein Mann, der die Welt ganz schon fast verlassen hat, und mit seinem Haselnussstecken und Rucksack vor dem Stadttor sitzt und betet.Bald ist mein Klapprad ein abenteuerlich verschnürtes Paket. Abends ist die Bude voll mit Pilgern und Wanderern, der Chef des nationalen französischen Wanderclubs ist zufällig da, er kennt natürlich den schwäbischen Albverein und seinen Vorsitzenden Ulrich Rauchfuß aus meiner heißgeliebten Heimatstadt Plochingen. Mit einem portugiesischen Comic-Zeichner fabuliere ich über das Gilgamesch-Epos und das Nibelungenlied. Weil er von überall aus in der Welt zeichnen kann, hat er keinen festen Wohnistz mehr nur noch ein paar feste Adressen von Verwandten. Seit zwei Jahren wandert er mit seiner Frau, einer Australierien durch die Welt. Er rät mir, die alten keltischen Epen zu lesen und die Kindergeschichte ohne Zeichnungen einem Verlag anzubieten, weil die Verlage gern selbst über die Zeichner entscheiden.
16.5.
St. Jean Pied-de-Port, zweiter Ruhetag.
Ob ich krank sei?, fragt Paul. „Nein“, sage ich. „Doch du bist krank!“ Denn nur so ist es nach den Statuten des Gites erlaubt, zwei Tage zu bleiben, ich werde in ein Zimmer mit vier Stockbetten verfrachtet, das Paul scherzhaft, das Hospital nennt. Ich schlage ihn zum Dank dafür zum letzten Ritter der Hospitaliter, was ihn sehr freut. Weil ich gestern schon Englisch, Französisch und Spanisch quer über den Tisch übersetzte, gelte ich ihm als Sprachgenie: „He speaks every Language“, sagt er immerzu, wenn er mich anderen Pilgern vorstellt.
Die Armee und die Ameisen, nenne ich die Kindergeschichte, die ich bis auf eine letzte Szene irgendwo in der Mitte fertig kriege. Am Platz, bevor es in die Altstadt von St. Jean Pied de Port geht, ist ein gutes Schreibcafe, ohne Musik und nervige Leute, überhaupt ist das Kneipen-Schreiben im Ausland leichter, weil einen die Gespräche der Gäste nie betreffen sondern nur angenehmes menschliches Hintergrundrauschen bilden. In den Schreibpausen sehe ich den Pilgern hinterher und den Touristen, die an der Hauptstraße nach Spanien fahren. Nein, Pilgern ist kein Tourismus. Überhaupt nicht. Wie sagte schon der dicke Elsässer gestern: „Auf dem Weg startest Du als Wanderer und endest als Pilger.“ Als ich zur Zitatelle pilgere, von Vauban, dem französischen Festungsbauer im 18. Jahrhundert erbaut, merke ich, dass ich den Fuß fast schon wieder abrollen kann, vielleicht schaffe ich es doch noch, den Weg fortzusetzen. Sonst ist mein Plan, mich irgendwie nach Pamplona zu schleppen und dann abzubrechen. In Pamplona war ich vor 25 Jahren aufgebrochen und ein Kreis hätte sich geschlossen.
Und noch ein Junge sitzt am Tisch, Gabriel, der ganz von Gott voll ist. Er verrät nicht, wo er herkommt, muss aber irgendwo vom Norden Deutschlands losgelaufen sein, und reist ohne Geld. Weil er ein Piger sein will wie im Mittelalter lebt er von milden Gaben. Im Monat, sagt er, brauche er 60 Euro Die rotblonden Locken hat über der Sirn verknotet, um das Handgelenk einen Rosenkranz geschlungen, Er ist ganz dürr, isst kein Fleisch, trinkt nicht, hat in einem roten Schuber immer eine Bibel vor sich liegen. Er vertraut so fest auf Gott, und ist sich dabei so sicher geworden, dass ihm Gott hilft, dass er es tatsächlich über den Camino schafft. Ich hole meine Pilgerbibel aus dem Rucksack und ermuntere ihn, Fraktur zu lesen. Den Franzosen versuche ich zu erklären, was eine Senfkornbibel ist, scheitere aber.
Und Agathe sitzt neben mir. Ein 20-jähriges-Mädchen, das ganz alleine von Mont St. Michel losgelaufen ist. Überhaupt scheinen die Bretonen ein hartgesottenes Völkchen zu sein. Redet nicht viel, sitzt bei bei 12 Grad barfuß auf dem Boden und steht im T-Shirt im Regen, wie ihr schweigsamer Reisebegleiter, ebenfalls Bretone. Die jungen Leute gehen aus, während die Herbergseltern auf versprengte Pilger warten. Unter dem Vorwand, die jungen Leute aus der Kneipe zu ziehen, genehmige ich mir noch ein Bier in ihrer Kneipe und scheuche sie dann doch in die Herberge. Ich schenke Gabriel das Wechselgeld, 1,60 Euro,.
Wie immer irrt man sich über Menschen, wenn man nicht mit ihnen spricht. Die Bettelpunks erfahre ich, sind auch Pilger, nur haben sie die Asche eines Hundes dabei, der nach Santiago soll. Merkwürdige Vorstellung, weil sie mich an Luthers Ausspruch über die Pilgerei, man wisse nicht ob in Santiago ein Stück Holz oder ein toter Hund begraben liege. Als ob es beim Wallfahren darauf ankommen würde. Keiner von Luthers brillantesten Sätze. Ich google die Geschichte vom wahren Jakob: Man wisse nicht, ob in Santiago die Gebeine von Jakobus Zebedäus, dem älteren oder von Jakobus Alpäus dem Jüngeren verehrt würden. Zugegeben ich Google sie nicht, ich schreibe sie aus dem Gedächtnis ab, wie ich es einst in der Legendäre Aurea gelesen haben. Paul hat mich wohl ins Herz geschlossen und will mich noch unbedingt fotografieren, bevor ich abreise. „Heuchle, dass du glücklich bist“, sagt er zum Abschied, als ich fürs Foto lächeln muss.
St.
17.05
St.
Jean Pied de Port – Roncevalles.
Mein Fahrrad lasse ich von einem privaten Packdienst abholen, weil mir nach zwei Tagen des Ruhens urplötzlich einfällt, dass ich den 15 Kilo schweren Karton nicht zur Post tragen kann, ohne die Verpackung und meinen Rücken zu ruinieren. Die ganze Pilgerei der Stadt trifft sich am Postamt, sogar Fritz The Cat ist wieder da und sendet ein paar alte Socken weg. Nochmal 600 Gramm Überflüssiges tüte ich ein, was insgesamt 14 Euro kostet und den Wert des Inhalts möglicherweise übersteigt, wie mir leider erst im Nachhinein klar wird. Zwei deutsche Mädchen waren in St. Jean Pied de Port zu sehr sich selbst überlassen – jedenfalls haben sie sich Schuhe gekauft, richtig heiße Reifen in Pink, die ebenfalls nach Deutschland müssen. Natürlich müssen sie erst mal in Facebook. Paul hat mir noch einen ausrangierten Gehstock mitgegeben, den Pilger zurück gelassen haben, und ich glaube vor allem die Stöcke sind es, die meine Gelenke schonen.
Beim Schreiben fange ich die Tage ein wie große bunte Schmetterlinge: Ich lasse sie, als alter Naturschützer, aber gleich wieder fliegen. Eine Spur führt durch diesen Tag. Eine Spur, ein langes endloses Band, das sich von 400 Metern im Tal über 1400 Höhenmeter durch die Pyrenenän zieht. Der Weg hat sich abermals gewandelt: War der Weg in Deutschland eine schwache Spur für einsame Wölfe, wurde er in Frankreich zum Altersheim für verdruckte Franzosen, jetzt aber geht es Rucksack an Rucksack über die Strecke. Es ist unmöglich, sich zu verlaufen, man muss einfach dem Vordermann hinterher. Das Publikum ist deutlich jünger geworden und deutlich lebenslustiger. Die Franzosen sind immer noch da und verdruckst, werden aber jetzt von laut schreienden lachenden Italiern, Spaniern und Deutschten an die Wand gedruckst. Die vielen Angeslsachsen, scheren sich sowieso um nichts. Der Weg hat seine Härte verloren, so scheint es, fast wie Urlaub.
Ich gebe meinen Bergstiefeln noch einmal eine Chance, der Fuß schmerzt höllisch und ich rolle ihn behutsam ab, ganz langsam, hörst du Haxe, ganz langsam, kein Grund rumzuzicken. Fritz überholt mich, sagt auch, wernn du langsam gehen kannst, ist es doch okay und so gehe ich langsam, Schritt für Schritt, Teck-Tock. Orchideen begleiten mich, komme langsam dahinter, warum es so viel davon gibt; Die Pferde fressen sie nicht, jetzt wachsen auch fleischfressende Pflanzen, Fettkraut, und dann meine Lieblingsblumen, die Schusternägel. Dämlicher Name für die blauesten Bläue, die in Deutschland blüht. Weiter geht es, höher geht es. Die Berge sind ganz mit Gras bewachsen. Sie kauern wie schlafende Drachen mit schuppige-felsigem Rücken. Hoch geht’s: Stechginster, Felsen, Serpentine um Serpentine. Es gibt keine so ausgeprägten Vegetationszonen wie in den Alpen, es gibt nur eine lange Strecke Wegs, an der sich Fußgänger, Radler und E-Bike entlangschleppen, und ich mit meinen Stöcken, Teck – Tock wie der Soldat in Borcherts „Draußen vor der Tür.“
Fünf Berge stehen im welschen Land
Die seynd uns Pilgrim wohlbekannt
Der erste heißet Runzevale
Da werden dem Pilgrim die Backen schmale.
Rüdiger Happ hat dieses Pilgerlied gefunden für mich, danke dafür.
Ich steige mit einem Amerikaner hoch, dessen deutsche Vorfahren den Schwabenzug im 19. Jahrhundert auf die Krim mitgemacht haben, von Stalin nach Sibirien verschleppt wurden und schließlich in den USA gelandet sind. Ich erzähle ihm von meinen Forschungen zu dem Thema, so lange, bis wir auf zwei wirklich bildhübsche Mädchen stoßen, die am Wegrand rasten. Zwei Israelinnen, oder sagt man Isrealitinnen?, die fließend Spanisch und Englisch sprechen. Ich lasse den guten Amerikaner bei den Mädchen, wohl wissend, dass seine Gattin, die langsamer läuft, bald auftauchen wird. Die Wolken zergehen in einen Himmel von spanischer Bläue. Herrlich, endlich. Die Bäume sind wie eingesteckt ins Heidekraut, der Laubwald geht bis auf 1200 Meter hoch, ich wandere in den dritten Frühling. Die erste Frühlingsvegetation erlebte ich Anfang April im Schwarzwald, man ist das lange her, zum zweiten Mal war Frühling im Aubrac auf 1300 Metern Höhe und jetzt wieder orchideenübersähte Weiden, Farne, die ihre Blätter langsam entrollen, lindes Grün. Ich finde 1 Euro 40 auf der Straße und frage mich, ob die 20 Cent Unterschied zu meiner Spende an Gabriel die Zinsen des Himmelreichs sind.
Jetzt immer weiter, immer höher, die Straße dehnt und zieht sich von Bergrücken zu Bergrücken. Die Rolandsquelle kommt. Muss noch googeln, ob der Orlando Furioso der gleiche ist wie der Rasende Roland, der wiederum jener Roland sein sollte, den hier die Mauren abgemurkst haben, sagt zumindest die Rolandssage.
Wikipedia schiebt das tragische Ende der Nachhut von Karl dem Großen den Basken in die Schuhe, die hier bei Roncevalle einen Hinterhalt gelegt hatten. Ich erkläre Leuten, die es nicht wissen wollen, dass mir eine Szene im Rolandslied eindrücklich geblieben ist: als die Schilder der Recken so mit Pfeilen gespickt waren, dass sie sie nicht mehr hochheben könnten und mit den Schwertern die Pfeile abhieben. Mir als bescheidenem Philologen genügt es, mich an der labialen Metathese von Orlando und Roland zu delektieren, und natürlich an allerlei seltenen Lippenblütlern am Wegesrand. Weiter, höher, Buchenwald klebt an abenteuerlich steilen Hängen, die Bäume sind gebogen wie Kleiderhaken. Irgendwann auf der Spur der Steine ist es so wie am Ende eines Marathonlaufes. Durch die Schmerzen, die Anstrengung, das hämmernde Herz, fühlt man plötzlich, dass man den Lauf schaffen wird, dass man ankommen wird, was eine unendliche Erleichterung bedeutet und einen unendlichen Ansporn. Die gleiche Sicherheit und das tiefe Glücksgefühl erlebe ich jetzt. Ich weiß nun, dass ich mehr als 20 Kilometer am Tag gehen kann, Ich bin meinem Zeitplan eine Woche voraus, wenn nichts Gravierendes schiefläuft, ich werde ich in Santiago ankommen. Weiter, höher, weiter. Unspektakulär erreiche ich die Passhöhe, die von einer SOS-Station gekrönt ist mit einem Notfall-Telefon und einer Bank, um Verletzte zu betten.
Dann tanze ich die Felsen herab. Ungefähr 50 Höhenmeter. Eine ältere Französin ist hingefallen und komplett durch den Wind. Umringt von vier Deutschen, Vater und Tocher, sowie einem Paar aus Berlin. Sie sprechen kaum französisch, die Dame kaum Englisch. Ich dolmetsche, erfahre, dass sie nicht verletzt ist, sie will aber ein Taxi haben. Ich rufe in Roncevalles an, kann aber nicht genug Spanisch, um meiner Gesprächspartnerin begreiflich zu machen, dass sie ein Taxi zur SOS- Station schicken soll. Gibt mir aber die Nummer eines Taxi-Unternehmens. Die gestürzte Frau wieselt zur Station hoch und ich denke, wenn sie das schafft, dann kann sie auch vollends runterlaufen, bevor wir ein Taxi ins Nirwana schicken.
Die Deutschen tragen abwechselnd ihren Rucksack, und ich nehme sie wie ein kleines Kind ins Schlepp. Ich erkläre ihr, wie man auf Bergpfaden geht, auf welche Steine man besser nicht tritt und welche einem zuverlässig Halt geben. Ich versuche ihr beizubringen, wie man die Stöcke einsetzt. Sie blickt nur die Hälfte, kommt aber leidlich voran. Der Absieg geht durch prächtige hohe Buchenwälder. Etliche Gedenkkreuze, es sind wohl schon viele Gestorben auf den Pässen. Anscheinend gibt es hier einen tückischen Nebel. Es ist still, wenig Vögel, kaum Unterholz. Sumpfige Pfade, es geht im Schneckentempo runter. Ich halte die Frau mit schön geredeten Zeitangaben bei der Stange. Ist doch nur noch ein Stündchen, sage ich.
Immer rette ich die alten Schachteln aus Bergnot, die nie jungen hübschen. Da sind die jungen Männer eben schneller, mutmaßen Vater und Tochter, die gerade den Rucksack tragen. Leuchtet ein.
Schritt für Schritt ganz langsam bewegen wir uns fort, und das ist vielleicht der tiefere Sinn des Ganzen, weil auch mir das langsame Tempo gut tut und meine Haxen weiter in der Spur hält. Der Wald lichtet sich urplötzlich, ein Bächlein rinnt und dann stößt man mit der Nase auf eine gigantische Mauer. Wer es jetzt noch schafft, den Kopf zu heben, der sieht die Abtei von Roncevalles. Weil sich inzwischen jahraus jahrein eine unübersehbare Horde von Pilgern bergab wälzt, haben die guten Mönche auf dem Parkplatz ihres Konvents Wohnkontainer errichtet, in denen je sechs Stockbetten quietschen.
Ich nehme mit dem Berliner Pärchen einen Apperetiv. Es tut mal gut mit Deutschen zusammen zu sein. Wir bätschen vor dem Essen jeder zwei Halbe weg, weichen darin das Abendessen ein, und stürzen nach Tisch noch zwei Halbe jeder und dann ab in den Wohncontainer.
Lebensgeschichten mit Kindern aus erster Ehe und so Zeug. Wie viele Menschenleben sind durch diese Geschichten zerstört worden? Es muss endlich eine Ehe auf Zeit geben, die aufgehoben werden kann, ohne dass zwei menschliche und finanzielle Ruinen übrigbleiben, auf denen einkichernder Anwalt sein Geld zählt.
Morgens sind die süßen Isarelinnen am Start, die ihren Wohncontainer in den Wahnsinn getrieben haben. Sie hatten alle Klamotten angezogen, die sie hatten, waren in den Schlafsack gekrochen, haben oben zugemacht, dann die Heizung auf 90 Grad gestellt, und die ganze Nacht gebibbert, während der Rest vom Wohncontainern langsam in der Hitze gegrillt wurde. Aber süß sind sie wirklich. Die eine sieht aus wie Amy Winehouse, die andere noch besser.
18.05
Roncevalles-Zubirii
Klarer kühler blauer Himmel, erst spät hämmern mir ein paar Regentropfen auf den Sombrero. Weiden mit Mutterpferden und ihren Fohlen.
Nach drei Kilometern durch duftigen Laubwald kommt der erste Lebensmittel-Laden, dessen Inhaber, angesichts der Tatsache, dass ich Deutscher bin, sofort eine Arie mit Fritz Wunderlich abspielt. Stolz zeigt er auf seinen Kassencomputer, der wohl auch Musik kann. Ich frühstücke bröselnd Kekse in der Sonne, was einen nahegelegenen Hühnerhof rebellisch macht, und zwei Prachthennen glucken heran und lassen sich von mir füttern. Die beiden deutschen Frauen von der Post haben es auch über den Pass geschafft und langen am Laden an. Wir gehen ein Stück zusammen: Scheidung, Trennung, immer die gleiche Geschichte. Und jetzt haben sie auch noch Sonnenbrand.
Es ist eine leichte Etappe nach Zubiri. Im Morgenregen erreiche ich eine Kirche aus der stakkatoartiges Englisch klingt. Ein Brite hat auf dem Camino de Santiago nicht nur seine Liebe gefunden, sondern auch eine Lebensaufgabe: Er restauriert das Kirchlein, und hat sich hinter die Altarwand durchgearbeitet: Dort steht ein uraltes Gemälde aus der ersten Zeit der Kirche, das seiner Ansicht nach die Himmelstür darstellen soll. Die Tür trägt rechteckige Felder mit Fingertupfen drauf, von denen er glaubt, dass sie die Familien aufgetragen haben um zu zeigen, dass sie das Himmelreich erlangen sollten. Darüber sieht man ein Jesus- Kreuz, das mit mit einem Andreaskreuz gewissermaßen gekreuzt ist. Das interpretiert er als heidnisches Symbol. Beim Fachsimpeln vergeht die Zeit. Nun bin ich 1500 Kilometer gewandert und finde die Tür zum Paradies in einer halb verfallenen Dorfkirche. Der Himmel hat aber über den Mittag geschlossen, also muss ich weiterwandern.
„Oberbekleidung fehlt noch“! Treffe auf die zwei Berliner: Weil der Weg mit weggeworfenen oder vergessenen Klamotten gespickt ist, macht sich die Frau den Spaß, die Sachen zu fotografieren, so lange, bis sie einen kompletten Pilger beisammen hat.
Ich pflücke den Mädchen Rosmarin, die sie sich in die Haare stecken. Versuche zu erklären, dass man es eher zum Kochen als zur Dekoration nimmt. Ein Belgier, der die Zeit zwischen seinem alten Job als Autoverkäufer und seinem neuen Job als Verkaufsleiter in Turin eine Auszeit genommen hat, schließt sich unserem Tross an. Ich erkläre ihm, dass ich früher mit meiner Mutter auf dem Markt immer Suppe verkauft habe und sein Herz schlägt schneller. Ja, ein Marktplatz, dass ist das Urbild aller Geschäfte. Er hat eine nachahmenswerte Sitte: Alle fünf, sechs Jahre, wenn die Bude wieder komplett mit Kruscht und Nippes vollgestellt ist, räumt er alles aus, geht auf den Flohmarkt, hat einen ganzen Tag lang Spaß mit seinen Kumpels und am Ende 2000 Euro in der Tasche.
Unterdessen finde ich die seltenste Blumen des Universums. Eine Orchidee, mit gelben Blättern, die wie eine Biene aussieht. Ich kann sie nicht googeln, komme immer bloß beim Bienenragwurz raus, aber der ist es definitiv nicht. Wir wandern durch höhlenartige Wälder, dickes Moos, Buchsbäume umschließen uns völlig, da wo der Buchs zurücktritt, erstrecken sich Blumenwiesen aus Ginster, Rosmarin, Hornklee, und Orchideen. Schließlich werden Ausblicke frei, auf ein Meer aus baumbestandenen Hügeln. Ich bin wieder allein und wäre beinahe über Amy Winehouse gestolpert, die mitten im Weg liegt. Erst denke ich, sie ist hingefallen, dann merke ich, dass sie das Licht- und Schattenspiel der Buchenblätter so faszinierte, dass sie nicht mehr weiter wollte.
Mir wird klar, dass der größte Teil der Menschheit den Begriff Wald höchstes aus Grimms Märchen kennt. Schlafe selig auf einer Wiese, jetzt in Spanien wäre es geradezu unanständig keine Siesta zu halten. Ein Pilger sagt, mittags wandern bloß mad dogs und Engländer. Er war Ire, glaube ich.
Es wird wieder steiler, ich zeige Amy, wie man über die Felsen tanzt. Sie versteht zwar, dass dieses Gehen die Knie entlastet, aber nicht, dass die Gebirge großartige steingewordene Symphonien sind, und die Täler, ein Wortspiel zischt mir durch den Kopf, wie große Walzer von Chopin der Strauss.Das erste was ich in Zubiri sehe, sind Pilger, die auf dem Dorfplatz sitzen und von einem betrunkenen Kolumbianer mit Wermut on Ice abgefüllt werden. Schmeckt gut das Zeug. Der Kolumbianer, so der Typ laufender Meter, setzt sich in Szene. Er kann allen ein Quartier besorgen zückt wichtig sein Handy und alle wissen, wie das ausgeht. Zubiri ist völlig überlaufen, die Gites sind komplett belegt. Ich finde einen Platz, den letzten wie es aussieht, will ihn gentlemanlike den Israleinnen anbieten, die aber ablehnen, weil sie zusammen bleiben wollen, der Belgier lehnt auch ab. Wahrscheinlich denken sie, so einem alten Mann wie mir sollte man doch den Vortritt lassen. Denen zeig ich’s.
Im Gite lehnt ein lustiger Südafrikaner an der Wand. Brite von Geburt, Mütze und Vollbart, erkennt meine Rotweiß gestreiften Kniesocken wieder, die ihm in St. Pied de Port aufgefallen sind. Ich denke an meinen Ex-Zimmer-Nachbarn Oliver Maria Schmitt und frage den Briten, ob er beim Ernest Hemingway Look Alike Contest mitmacht. „Nein“, sagt er, er sei Santa Claus.
Er erzählt die Geschichte, dass mal Charly Chaplin auf einen Charly Chaplin Look Alike Contest gegangen ist und prompt verloren hatte.
19.05
Zubiri – Pamplona
„Ich konnte nicht schlafen wegen dir!“, klagt die Koreanierin, die das Stockbetten unter mir hatte. Umgedreht kann ich nicht behaupten, dass ich wegen ihr eine schlaflose Nacht gehabt hätte. Cultural Clash, oder wie das heißt.
Morgens ist Gabriel da und verteilt Rosinen: Wir reden über unsere Wege. Ich sage, wir dürfen nicht zulassen, dass wir das Kostbarste, was uns gegeben ist, unsere Lebenszeit ummünzen zu Geld, das wir nicht ins Grab nehmen können. Weil er so fest an Gott glaubt, ist das Leben für ihn unendlich. Deswegen sagt er, die Lebenszeit ist egal, für ihn zählt allein die Liebe: „Das ist das wichtigste“
Er empfiehlt, den Jakobus-Brief zu lesen. Mach ich dann auch, finde Worte darin, die er zu mir gesagt hat und einen interressanten Gedanken: Gott würde dich nie versuchen, schreibt Jakobus, das hieße die Sünde gehe immer vom Menschen aus. Das würde heißten Gott ist zwar allmächtig, aber stellenweise ist ihm seine Allmacht herzlich egal. Der Big Brother God, der alles sieht war mir immer schon ziemlich unsympathisch.
Es wird wieder wärmer. Die letzte Strecke nach Pamplona geht durch Niederwald, in dem ein Spanier auftaucht, der mir eine Cola-Büchse aus dem Wassereimer verkauft. Er ist seit fünf Jahren arbeitslos, sagt er, und so sieht er auch aus. Das Hemd von der Sonne gebleicht und durchbrochen. Als drei Australier vorbeikommen, bedeute ich Ihnen, sie sollen auch was kaufen, was sie dann auch folgsam tun. Mir wird die Rolle der Kirchen klarer, es ist immer leichter, andere anzuhalten gute Werke zu vollbringen, als selber welche zu tun.
Die Straßen: Geradezu meditierend pilgere ich durch die Vorstädte von Pamplona. Der Staub der Städte dringt nicht durch zu mir. Große Muscheln prangen auf der Straße wie auf einem Radweg.
Während ich das in der Hemmigway Bar in Pamplona schreibe, schneit ein Gestöber Spanier in die Stube und macht, was es am besten kann: Krach.
Pamplona, in den Wolken. Eine prächtige Altstadt aus schachteligen Häusern, mit großen Fenstern und Balkonen, feinfarbigen Fassaden, die oft nur zwei Fenster breit sind. Die Straßen sind riegelartig um die Kathedrale angeordnet und die Altstadt ist fest in der Hand von betrunkenen Autonomen, denen es vor allem ums Trinken und die Autonomie des Baskenlandes geht. Junge, junge eine quirlende, lebenslustige Stadt, Tübingen mal zehn ohne Handbremse. Ich muss mit meinen Ringelsocken irgendeiner Comic-Figur gleich sehen, jeden falls rufen die Jungs mir immer „Wally“ oder „Willy“ nach. Mit Besoffenen kann man am leichtesten Spanisch üben, weil ihre Grammatik ähnlich rudimentär ist, wie meine. Mitten im Hauptplatz prangt eine Bar, die Ernest Hemingway wohl öfters besuchte, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er die anderen Bars ausgelassen hätte. Ein Bronzener Hemmingway lehnt am Thresen und wir kommen ins Gespräch, fachsimpeln ein wenig,wie man eine Szene anfängt, wo die Grenze der Adjektive ist, einmal solche ersten Sätze finden wie er. Seine großen Geschichten mit seinen kaputten, impotenten, zum Sterben verurteilten Helden, deren letzte Tage er nachzeichnete, bevor sie in den endgültigen Ruin trieben. Warum man ausgerechnet seinem Werk Machismo unterstellte, ist mir auch so ein Rätsel. Ein Polizeibemter und seine Tochter leisten mir Gesellschaft. Das übliche: Die Leichen, die Intrigen. Die Bauernopfer auf der Führungsebene, wenn die Politik Mist baut, die Beharrlichkeit, das ausgesetzt sein, rennen, wenn es brennt.
Wir schlafen in einem Schlafsaal mit 140 Betten. Jesus und Maria. So heißt das Hostel.