Immer noch der 18.4
Bin bei einer Künstlerin untergekommen: ein Quadratmeter Tisch drückt zwei Sofas an die Wand. Auf kleinen Simsen reihen sich Gemälde und Gips-Figuren. Ihre Sachen, Lauras Sachen. Sie wohnt mitten am zentralen Platz von Besancon vor der Kirche St. Paul. Sie hat Humor und Sinn für die Formen, ihre Figuren wollen wie Lehmbrucks nach oben, die Linien der Körper spreizen sich hoch wie Blütenblätter. Auf dem Küchentisch prangt ein männlicher Torso, aus Gips, Platre heißt das auf französisch. Sie kommt aus Barcelona und lebte ihre Leben lang in r
Altbauwohnungen mit diesen hohen Decken — vielleicht daher die Sehnsucht nach Höhe. Au Fond am Teetisch gibt es Nudeln und Rotwein, den sie Flaschenweise in mich kippt.
Wir haben die gleichen Iphones: Ich bringe ihr bei, wie man Siri nach dem Sinn des Lebens fragt, und erkläre ihr die Antworten. Sie sagt, man muss einfach drei, vier Siris miteinander kommunizieren lassen: Ich entwerfe eine Sinfonie für 40 Siris, die versuchen, miteinander zu sprechen, und stelle mir vor, wie sie sich in der Metropolitan Opera in New York zu einem mächtigen Stimmengewirr vereinen, das aufschwillt und abebbt und das man den dooferen Leuten unter dem Publikum und der Presse als Vereinzelung des Individuums in der Postmoderne verklickert.
In New York hatte ich ja Rodins Bürger von Calais gesehen, ich lobte die mutigen gestreckten Proportionen der Körper. Sie erklärt mir, dass man als Bildhauer, die Füße immer viel zu groß machen muss, damit die Statik der Figur stimmt, und weil das so ist, auch die Hände und die Köpfe, damit die Proportionen stimmen. Endlich verstehe ich den David Michelangelos.
Hatte die unproportionalen Hände und Füße für das Heraufdämmern der Moderne gehalten. Ich komme darauf, dass die ganze Kunstgeschichte nur solches an den vergangenen Kunstwerken gut findet, was auf den gerade herrschenden Kunststil Bezug nimmt. Bei Vermeer sind es die duftigen Striche (der Beginn des Impressionismus), bei Goya die Farben und überdrehten Proportionen (der Beginn des Expressionismus), „mais non“, sagt Laura, Goya hat wahnsinnig gute Proportionen. Aha und nun? Meine Theorie fällt zusammen, wie ein Kartenhaus. Ich erkläre stattdessen, dass ich das abstrakte Zeug nicht mehr sehen kann. Sie interessiert sich für den Kram nicht. Macht lieber Kunst. Ein Projekt nach dem anderen. Sehr schöne Sachen. Sie verkauft und hat dann wieder Platz für Neues.
19.04
Die Zeit ist kostbar. Die Zeit ist so kostbar, dass sie ihr in Besancon ein Museum hingestellt haben, denn alle kostbaren Dinge landen im Museum. Das Musée du Temps in einem alten Adelspalast. Im Glockenturm hängt ein
Fouceaultsches Pendel herab. Von einem Fenster oben stürzt sich der Blick herab, gierig wie ein Selbstmörder, bis in die Tiefe, wo ganz unten, ganz klein die Messingkugel schwingt. Aus der Tiefe, de profundis, ein Eindruck für die Ewigkeit. Grube und Fouceaultsches Pendel. Das ruhige Fortschreiten der Messingkugel in dieser Tiefe, wo sie einen Kreis bunter Kartonpfeile nach hinten schiebt, als würde sie über einer Blume schweben.
Was ist Zeit? Wir kommt es so vor, als seien die sich drehenden und tickenden Apparate von aller Zeit abgekoppelt. Vielleicht sollte man das Vergehen von Zeit nicht an immer gleichen Bewegungen, sondern an Veränderung, Entwicklung messen. Sie haben wunderbare alte Uhren im Museum, die ihre Zahnräder und Mechaniken präsentieren wie Geschmeide. Flugs eine Dissertation verfasst über die Frage, wann das Innenleben von Maschinen aufgrund ihrer Präzision so ästhetisch wird, dass es nach außen wandert und sofort eine Linie gezogen, von der Uhrenindustrie Besancons zu Hayeks Swatches und den IMacs der 90er von Steve Jobs.
Abends wieder Wein, Nudeln, und Laura. Was ist Zeit? Spreche ich von meiner Arbeit, hört sie höflich zu. Wenn ich aber von meinen Romanen, Geschichten und Gedanken erzähle, lauscht sie begeistert. Sollte mir zu denken geben. Tut es auch.
Ich kämpfe mit dem Weg, er ist mal da und wieder nicht da, ich fasse ihn nicht. Bin ganz unglücklich. Hier in Besancon flieht er vor mir wie das Ende eines Regenbogens, der sich genau so schnell entfernt, wie man ihm hinterher rennt.
Einmal in meinem Leben bin ich an das Ende eines Regenbogens gekommen, ich fuhr über die Bundesstraße nach Stuttgart, direkt hinein in den Regenbogen, der sich in einzelne Regentropfen auslöste und der Wind war so schnell wie mein Auto und ich fuhr mit dem Regenbogen wie ein Wellenreite´ und um mich herum waren lauter goldene Regentropfen, alles um mich war golden, und ich verstand die Legende, dass am Ende eines Regenbogens ein Topf voller Gold steht.
20.04
Hochauf ragt die Kirche in Dole über der Stadt. Ein Organist verwandelt die Kathedrale in ein dröhnendes Herz, in eine Glocke, die Schönheit nach außen schallt. Versuche zu fühlen, was die Menschen im Mittelalter fühlten, wenn sie aus ihren zwei mal zwei Meter Zimmern mit Lehmboden in solche Räume traten. Dieses überirdisch übergroße Schiff, in dem jeder Stein vom Orgelklang vibriert. Abendsonne macht aus den Kirchenfenstern funkelnde Teppiche, die biblische
Geschichten erzählen, die Figuren darin treten aus den Fenstern und wandeln auf den Tönen und den Wegen aus Klang. Vom Kirchenschiff herab fallen weiße Schleier.
Unter den Arkaden ein Gemälde. Ein weißgewandeter Jesus mit einer Schusswunde schwebt über tote Soldaten hinter Drahtverhau, darunter die Namen der Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Seemanspfarrer, den ich mal interviewte, sagte: „Auf manche Fragen gibt es einfach keine Antwort.“
Unten in der Stadt klebt das Muschelzeichen an einer Mauer. Der Weg ist wieder da.
Der Sinn des Pilgerns: Hatte mir ein Besancon ein Klapprad gekauft und war jetzt den ersten Tag unterwegs, das war der schönste meiner Pilgerreise. Die Doubs breitete eine smaragdene Spur, die Überschwemmung gab ein jungfräulich reines Land frei, ein sanfter Rückenwind schob mich nach Dole. Grund zu feiern:
Die Zigarre, die ich in Santiago zu rauchen gedachte, hat allerdings leichte Schimmel-Fäden, war wohl die letzten Tage zu viel Regen. Die Bar im ehemaligen Templer-Maison ist zu, aber gegenüber ist offen für Bier, Tabak und Schreiben. Ein hübsche Frau kommt an die Tische vor der Tür und knutscht die ganzen Kerle. Mist, ich will auch Franzose sein!
Aber, was zum einbeinigen Henker ist eigentlich aus den Franzosen geworden? Sie fahren Liegerad und qualmen E-Zigaretten. An jeder Ecke steht ein Plastiktüten-Spender für Hundescheißetüten. Die Radwege sind beschildert wie der Weg zum einen Flughafenterminal, sowieso asphaltiert wie eine Autobahn und die Abfahrten sind gepflastert mit Verbotsschildern. Die sicherste Bastion der Freiheit in Europa gerät ins Wanken!! Flugs einen Science Fiction Roman über den unbarmherzigen Terror der Ökokratie verfasst. Der Grüne Bruder sieht alles, jedes ungrüne Verhalten wird unbarmherzig denunziert. Gallische Dörfer sind vage Erinnerungen dementer alter Männer.
Ich qualme meine Zigarre, ich liebe die letzten Zentimeter am meisten, wenn der Rauch heiß und der Tabaksaft süß auf der Zunge schmeckt, bis sie zu heiß wird und ich sie loslassen kann, damit sie in Ruhe ausgeht in Asche und Zeit.
Ein sehr gebeugter Herr im elektrischen Rollstuhl grüßt mich, fährt an die Tische, spricht mit den anderen Gästen draußen auf der Straße. Der Wirt kommt raus und legt ein Brett an die Türschwelle, damit der Herr in die Bar rollen kann. Vielleicht sind sie doch noch Franzosen.
Statt der Niederschrift eines eingeschnappten Romans lieber eine Kneipe aufgemacht, die „Zum einbeinigen Henker“ heißt. Dort gibt es nur Bier und Fleisch an Spießen.
21.4
Der Mensch ist einfach nicht für das Leben unter freiem Himmel gemacht. Scheint mal einen Tag die Sonne, dann kriegt er einen Sonnenbrand, und wenn es regnet wird er nass.
Wohin soll ich pilgern, wenn diese Reise zu Ende ist? Jetzt erstmal nach Chalon-Sur-Saône.
Das Klapprad, das ich in Besancon erstand, ist tatsächlich das erste neue Fahrrad, das ich seit meiner Konfirmation gekauft habe. Sonst immer nur gebrauchter Schrott, an dem ich jahrelang repariert habe. Meine Eltern haben mir natürlich einmal ein Fahrrad geschenkt. Es war ein orangenes Klapprad von Quelle ohne Gangschaltung, ich taufte es liebevoll Uhrwerk Orange, kannte den Film natürlich nur dem Namen nach, war ja erst elf oder zwölf. Auf den Rahmen habe ich das Abziehbild eines Rennwagens geklebt. Man bekam, wenn man beim Bücher Bernd in Plochingen ein Buch kaufte, ein Abziehbild geschenkt.
Manchmal, wenn ich ein orangenes Klapprad sehe, spähe ich unwillkürlich nach dem Bebber. Damals fuhr ich bis zu 80 Kilometer am Tag und konstruierte mit meinen zwölf Jahren in Gedanken eine Lenkerheizung aus einem Glühdraht, den ich an den Fahrraddynamo anschließen wollte. Stampfe demnächst ein Lenkerheizungs-Imperium aus dem Boden und werde reich.
Die Nationalstraße ist mir zu gefährlich und so mäandriere ich mit den Nebenstraßen entlang nach Westen, radle mich in Trance, aus dem mich ein Schrei von Gelb weckt: Rapsfelder auf einmal. Heller, intensiver, süßlich modriger Geruch. Bleibe lange sehen und stehen.
Kämpfe mich durch eine moderate Berg und Tallandschaft „Bresse“ genannt, die sich vor Chalon sur Saône fläzt, und stelle, als ich versuche, nach dem Pinkeln über einen Graben zu springen fest, dass es keine vernünftigen Metaphern für Schmerz gibt.
Es schoss ihm wie flüssiges Blei durch die Achillessehne ist doch Quatsch, schießt es mir durch den Kopf, als mir der Fuß umknickt. Es weiß doch kein Mensch, wie sich flüssiges Blei anfühlt? Vielleicht einfach sagen, der Schmerz war so heftig, dass mich umhaute? Aber letztlich hieb mich niemand um, es war das Gefühl, als würde ein Knoten in meiner Achillessehne zweimal durch ein Nadelöhr in meiner Ferse gedrückt, der Schock und der Schmerz ließen mich schreiend ins Gras krachen.
Ich schaffte es, bis ins nächste Dorf zu radeln, bat die Tabac-Bureau-Frau, mir ein Taxi nach Chalon zu holen, und eine mitleidige Mitfünfzigerin kutschierte mich zu meiner nächsten Couchsurfing-Adresse. Als ich versuchte, aus dem Taxi zu steigen, wurde mir klar, dass das keinen Wert hatte. Ohne Geld zu verlangen, brachte mich die Frau ins Krankenhaus und blieb bei mir, bis die Formalitäten erledigt waren.
Nochmal Glück gehabt. Nichts gerissen, sagt der Doktor, aber sie wird reißen, wenn ich so weitermache, Jetzt weiß ich, was Talon D’achille auf Deutsch heißt, dass die französischen Krankenhaus Ambulanzen genauso voll sind wie in Deutschland, dass der Handwerker neben mir, von dessen Unterarm ich nur ein blutiges Handtuch sehe, ebenso lange warten muss wie ich, aber ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll.
Vielleicht bleibe ich eine Woche in Taizee, schreibe für meine Töchter die schönste Kindergeschichte der Welt, schick den ganzen Krempel, der mein Gemüt und mein Gelenk belastet nach Hause und fahre mit dem Zug Richtung Pyrenäen, um dort mit kleinen Wanderetappen wieder anzufangen.
Lieber Uli,
Ich verfolge gebannt deine Berichte. Es klingt nach viel Erfahrung und wenig Freude. Wenn du magst, kannst du jederzeit zu uns zurückkommen. Wir kriegen das schon hin, zumal Tommy sich heute bei einem Sturz vom Rad verletzt hat und jetzt voraussichtlich erst mal vier Wochen ausfällt.
Also wenn du magst und nur nicht abbrichst, weil du nicht weißt, wie du die freie Zeit rumkriegen sollst, dann melde dich.
Ganz liebe Grüße
Kai