Mein Jakobsweg, Teil 8

28.04

Mein Reiseführer erzählt mir, dass die Gegend der Auvernge von den Vasconen besiedelt worden sei, Basken, deren seltsame Sprache noch in den Ortsnamen ablesbar ist, die oftmals auf -ac

enden, wie Cognac. Niemand weiß, zu welcher Sprachfamilie das Baskische gehört. Das erinnert mich daran, dass ich dieses Rätsel auch noch lösen muss, nachdem ich den Diskus von Phaistos und das Voynich-Manuskript entziffert, sowie die Herkunft des Etruskischen erklärt habe. Dann muss ich nur noch die Quadratur des Kreise schaffen. Bloß wie kriegt man die verdammten Ecken weg? Mit Photoshop vielleicht? 
Der Heilige Rochus wird in Sangues verehrt, der Schutzheilige der Pestkranken und Helfer bei offenen Wunden, ich muss an meinen alten Tübinger Stammtisch Freund denken. 
Sollte für die ganzen Schutzheiligen des Pilgerns, den großen Ibupropheten, als da wären der heilige Immodium, Voltarenus, Compeedius mehrere Carmina dichten. Hier ist das erste: 

O Heiliger Voltarenus,
Gelobt sei dein kühlendes Gel

Der Du linderst unsere Schmerzen

Du bist unser Hoffen und unser Sehnen

kühlendes Mittel! 
Gesalbt seist Du auf unsere Beine

dass sie auferstehn am Morgen 

Und uns tragen am Tage 

Bis wir am Abend in unserer Herberge

Dich wieder loben und preisen

und schmieren an jeglichem Tage

bis ans Ende unseres Wegs. 

Ich biege ins Loire-Tal ab, weniger Höhenmeter und ein Fluss, der schwarzes Wasser zwischen Felsen, Kiesbänke und Weiden sprudelt lässt. Hier Kanufahren muss ein Traum sein. In Camelieres sur Loire zieht mich eine mächtig gebaute Kirche von der Straße. Ein riesiger romanischer Kapellenumgang, alles in wuchtigem graubraunem Stein gefügt, mit weißen Mörtelfugen. Sie wirkt wie eine Grotte, an der Wand hängen noch bemalte Trümmer eines romanischen Altars. Bete. Schiebe müde und erschöpft durch die steinerne Altstadt das Fahrrad zur Straße neben einem krummen alten Mann, der seine eben so alte Motoregge als Rollator benutzt. Altern auf dem Dorf.

Die Kirche von Camelieres sur Loire zieht mich von der Strasse

In der Kirche habe ich für ein weniger anstrengendes Reisen gebetet. 500 Meter später werden meine Gebete erhört. Der Herr schickt mir einen Platten, weil er genau weiß, dass ich weder Werkzeug noch sonst was mithabe. Etwa vier Minuten später kommt ein Taxi vorbei und nimmt mich auf dem Rückweg mit nach Le Puy en Velay. 
Der Taxifahrer hat einen gesunden Mutterwitz: Ob ich keine Pumpe dabei hätte, fragt er mich, „das schon“, erwidere ich, mir würde der 15er fehlen für die Radmuttern. „Es fehlt immer etwas“, meint er trocken.

Die Marienstatue überragt die ganze Stadt

Le-Puy-en-Velay scheint mit einem Hubschrauber auf drei spitze Kegel gesenkt: Auf einem prangt eine kirchturmhohe Marienstatue, auf dem anderen reckt sich eine Kirchenburg und auf dem dritten klebt die Altstadt. 
Dort ist auch das Refugium, in dem man erst mal Minzsirup, Wasser und einen Keks bekommt. Weil das Einchecken dauert. Warum hält man eigentlich immer den, der am meisten quasselt für den Chef? Ein Mann viereckig, graubraun, wenige schlechte Zähne, redet und redet. Er ertrinkt in seinem Gerede, und redet dabei wild um sich, so als würde glauben, nur noch durch noch mehr Reden, könnte er sich retten. Eine halbe Stunde textet er mich zu und endet damit: „Und nachher erkläre ich Ihnen alles.“ Ich fliehe in den Decathlon und lasse mein Radel reparieren. 

Ärgerlich, der Busfahrer nimmt mich wegen des Fahrrads nicht mit, aber wie soll man sonst zu einer Fahrradwerkstatt kommen, wenn man kein Auto hat??? Ein dicker Taxifahrer macht die Fuhre. 

Ich kaufe ein und das Baguette erinnert mich daran, dass ich auch noch das Rätsel lösen muss, warum in Frankreich die Papiertüten immer so kurz sind, dass die Baguette oben rausgucken?

29.04
Le-Puy – Sauges

Die zweite grosse Hauptetappe ist geschafft. In Le Puy en Velay beginnt die Via Podiensis

Morgens ist Pilgermesse um sieben. Etwa 30 Pilger sind da, sogar welche aus Neuseeland und Mexiko. Sehr ergreifend und sehr rührend, ich muss aufpassen, dass ich nicht in religiöse Verzückung gerate. Eigentlich wollte ich in Le Puy bleiben, aber bin wohl in den letzten Wochen etwas menschenscheu geworden. Der Rummel geht mir auf den Wecker.

Der Priester bezeichnet das Pilgern als Gottesdienst mit den Füßen, und man könne im Wandern in der Stille und in der Natur Gott suchen, und ihn vor allem in seiner Schöpfung finden. Tatsächlich ist die Natur für mich der evidenteste Hinweis auf die Existenz Gottes. Erinnert mich an einen Witz, den mein Chemielehrer machte. Wie kann man mit Darwinismus die Schwerkraft erklären? Na am Anfang gab es Steine, die flogen nach oben, nach rechts und nach links, und manche nach unten. Die nach oben und zur Seite flogen, sind weggeflogen, und die Steine nach unten sind geblieben. 

Scho no a Stück

Zu glauben, die Natur sei allein durch Zufall entstanden, ist genauso intelligent wie zu glauben, ein Flugzeug wäre durch Zufall entstanden, auch wenn es nach oben und zur Seite fliegen kann und sogar nach unten. Die Frage wäre auch, ob die Existenz eines Ich von einem Du abhängig ist, weil nur das Andere die Grenzen von uns selbst zu ziehen vermag, insofern könnte man Gott auch als das extrapersonnelle Du anschauen, das notwendig ist für mein Ich. Bevor ich mich weiter auf philosophische Höhen versteige, geht ich erstmal die 1100 Meter im Hochland der Margeride an. 

Noch drei Beobachtungen vor dem Anstieg: 
1) Ob Gott existiert, hängt also im Grunde von der Frage ab, ob es einen Zufall gibt oder nicht. 
2) Da Kirchen meistens nach Osten ausgerichtet sind, bieten sie einen zuverlässigen Wegweiser für die Himmelsrichtungen in Städten und Dörfern.
3) Die haben hier in der Auvergne einen verteufelt guten Rosé.
Radele durch flaches Hochland und tiefe Täler, in ihrer Schönheit kaum beschreiblich, der liebe Gott hat große Granitblöcke über tiefgrüne Weiden gemurmelt, bestanden mit Kiefern und Schlehen. In meiner Phantasie setzten sich die Granitfindlinge zu Überresten von Steinzeitgräbern zusammen, zu neolithischen Sonnenuhren, zu uralten Verteidigungswällen. 
Die Schlehen treiben aus. Kaum eine Pflanze hat ein derart krüppeliges und brutales Aussehen und gleichzeitig so zarte weiße Blüten. In den Felsen kauern Steinpflanzen, die ich noch nie gesehen haben, Fleckvieh grast und Kaltblutpferde sind auf den Weiden mit Klodeckel-großen Hufen. 

Wenn Sie dieses Tier sehen, die Silberbüchse aus dem Keller holen und sofort losballern!

Sauges: Dort wo der letzte französische Werwolf wütete. Eine hölzerne Beste fletscht das Gebiss ins Tal, zum Andenken an ein Tier, das ein französischen Jäger 1764 mit einer Silberkugel erschoss und das zuvor an die 100 Frauen und Kinder umgebracht hatte. Hatte mal eine Dokumentation über die Bestie von Sauges gesehen. Danach muss es eine Tüpfelhyäne gewesen sein, die wohl aus einem Zirkus ausgebrochen war. Leider ist das Bestien-Museum geschlossen, also lieber Rosé trinken.

30.04
Sauges – St. Alban 
Einsam kam ich aus Wäldern und Städten, Schluchten hüllten mich ein und Wind. 

Und jetzt: An jeder Ecke wird wild drauflos gepilgert. Die Via Podiensis ist eine Touristenattraktion, die Dorfstraßen sind von Pilgerkneipen flankiert, Jakobusstatuen weisen den Weg, die Kneipen sind bevölkert von jenen Pilgern, die schon ein Weilchen unterwegs sind, und die man an den wetterbraunen Gesichtern und den ent- bis verrückten Augen erkennt, daneben die tatendurstigen Neupilger, die in Le Puy angefangen haben, und die mit viel zu großen Erwartungen an ihre Kräfte losstürmen, die aus meiner Sicht jetzt eitel oder kindisch wirken, bloß: so war ich ja auch. Der Weg wird auch sie belehren.  
Und Du aWeg, was machst Du? Odi et amo, schon allein für diesen schönsten Vers der Welt lohnt es sich, ein wenig Latein zu treiben. Auf dem Weg nach St. Alban hält ein Bauer, der mich müden Mann das Fahrrad schieben sieht. Fragt ob, ich Hilfe brauche, nein, ich sei nur müde, wirklich nicht, nein. Er dreht um, er ist extra hinter mir hergefahren
Südliche Steine, aber nördlicher Himmel: Tropfen perlen herab von wilden Narzissen, Ginster und Schwarzkiefern, später unbarmherziger Regen, der Himmel eisern, dann Schnee, wattige Flocken. Ich spiele wieder Kinderspiele, kneife die Augen zusammen und fühle mich wie Kapitän Kirk auf der Enterprise, die weißen Flocken sind die Sterne, die an meinem Raumschiff vorbei fliegen. Dann wird es ernst, ich bin für Radfahren bei Schnee nicht ausgerüstet, Jacke und Hose sind durchnässt, heftiger Gegenwind jetzt, in Bewegung bleiben, nicht absteigen, in Bewegung bleiben, bloß nicht frieren, nicht absteigen, meine Jacke hat sich weiß gefärbt, die Hände sind taub und so kalt, dass der Schnee drauf liegen bleibt. 

Weisse wattige Flocken schneien

Ich muss das nächste Dorf erreiche, dort will ich jemand rausklingeln und bitten, dass er mich in die Stube lässt, um mich aufzuwärmen. Kämpfe mich Meter für Meter vorwärts, sehe im Schneegestöber ein Schild: „Bar“.
Meine Rettungsinsel ist mäßig bevölkert. Um den Tresen sitzen fünf Leute aus dem Dorf. Von ihren Gummistiefeln fällt Stallmist auf den Boden, sie diskutieren über Politik, ich verstehe nur Etrangeres, eine jüngere Frau hält dagegen, redet von Marschall Petain und Bomben auf Leute und verlässt dann wutentbrannt die Kneipe. 
Es gibt für fünf Euro große Rindfleischbrocken mit Oliven und Spaghetti mit dunkler Soße und gelben Rüben, serviert auf gesprungenen und zerwaschenen Tellern. 
Im wahrsten Sinne kommen immer mehr Pilger reingeschneit, die Unterhaltung mit zwei Bretonen vergrößern meinen Wortschatz. Ob sie noch Bretonisch können? Nein, höre ich, nur noch die Großväter. Ich rede davon, dass für mich das Sterben einer Sprache mit zum Schrecklichsten gehört, weil es ein Sterben einschließt von Metaphern und Weltsicht, der ganzen Weisheit eines Volkes. Es gebe Hoffnung, sagt er, wir haben jetzt sogar eine bretonische Schule für die Jungen. Die Pilgertruppe ist mit gutem Humor ausgestattet und so essen wir und trinken, bis die Sonne scheint und wir weiterkönnen. Zwei Holländerinnen beeindrucke ich, als ich meine Jacke auswringe, die literweise Schmelzwasser spuckt. 
Lange ein Wiesel bei Tiefbauarbeiten beobachtet. Ich schiebe das Klapprad auf 1300 Meter, in einen weiteren harten Schneeschauer, kleine gemeine Graupel, die verletzten. Komme heil den Pass runter, „pfifft“, mache ich, ging doch und „pfifft“ macht mein Reifen, geht nicht mehr.  

Die gütige Herbergsmutter, hat einen 15er. Aus dem Reifen operiere ich zwei Glassplitter und ein Metallstück. Dann Abendessen in einer kleinen familiären Unterkunft. Suppe gut, alles gut. 

Mein steiniger Jakobsweg. Mon Chemin, Teil 7

26.04 Lyon – St. Etienne  
Habe mir im jugendlichen Leichtsinn zwei Kaba-Flaschen gekauft und ausgetrunken. Der Durchfall war bis St. Etienne zu hören, wohin ich heute radle. Bier trinken ist gesünder, Rotwein reicht auch. So lerne ich aber ein Scheißhaus kennen, das mit einem Lichtschalter für die Wasserspülung ausgeschaltet ist. Vermutlich löst er den Wasserfall in die Schüssel elektrisch aus.

Frankreich, Land der Feinschmecker-Türme

Muss den ganzen Tag an Autokolonnen entlang, die sich Stoßstange an Stoßstange, 30 Kilometer bis St. Etienne schieben. Zur Verkehrsberuhigung haben die Planer die Straßen verengt, was den Nachteil hat, dass die Autos mich Radfahrer nicht mehr überholen können. Als Prellbock für die französischen Verkehr zu dienen, macht wenig Spaß. Ein Problem, mit dem ich nicht gerechnet habe: Die Abgase, die es so in Deutschland nicht mehr gibt. Sie vernebeln mir den Kopf derart, bis ich Kopfweh bekomme. Aber es sind dieselben Autos wie in Deutschland! Bei uns spielen sie die Saubermänner und in Frankreich vergiften sie die Leute. Diese Autofritzen sind einfach nur böse. 

Andererseits gibt es in Frankreich selbst entlang Nationalstraßen Radwege, vielleicht einen Lenker breit, aber das langt ja. Man braucht nicht so viel, um es den Radfahrern kommod zu machen. Dort, wo der Platz absolut nicht reichte, haben sie einfach ein Radweg-Ende Schild hingestellt, wenn es breiter wird, dann beginnt der Radweg halt wieder. Wäre nachahmenswert, aber sehe schon die deutschen Angsthasen in Parlamenten und Versammlungen, sie mit zerfurchter Stirn über Mindestabstände reden, weil sie sich nicht vorstellen können, dass man Mindestabstände mit einen Federstrich ändern kann. 
Dabei ist diese Haltung etwas inkonsistent. Wenn die Entscheider in Deutschland vor allem Angst haben, dann müssten sie doch auch vor der Angst Angst haben. Doch daraus könnte ja Gutes erwachsen. Davor haben die Brüder natürlich wieder Angst. 
Viermal gehe ich durch Regenschauer, während ich langsam die Berge erklimme. Sprühregen wieder, und zwei wunderschöne Regenbogen schenkt mir der liebe Gott, die sich über die ersten Berge des Massiv Centrals spannen, in das ich morgen vordringen will. 

He, ihr deutschen Angsthäschen! in euren Parlamenten und Gemeinderäten, lest doch mal anstelle euer Excel-Tabellen und Spiegel-Online, die Bibel! Solange, die Erde steht, soll nicht aufhören, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Der Rest steht bei Noah. Das ist der mit den Weinstöcken. Prost.

Abends in einem Englisch Pup. Echte Franzosen, sie saufen Schnaps wie die Bürstenbinder Jeder hat jeden im Arm. Der 60-jährige das 20-jährige Mädchen und umgekehrt. Die junge Französin lässt den Strickpulli über die Schulter fallen und entblößt so eine Phalanx von Bändeln und Spitzen, die eine Unterwäsche erahnen lässt, deren Komplexität mich schon vom Zuschauen überfordert. 
27.4 
St-Etienne – Yssingeaux
Viele Menschen denken an mich, und das tut mir gut. Eine Freundin schickt mir Engelkarten und Gebete. Ich bin so unsäglich erschöpft, zwei riesige Aufstiege kosten mich vier Stunden. Auf den Höhen folgen kleine Abfahrten und Anstiege, die ich tapfer entlang radle, bis ich keinen einzigen Aufstieg mehr schaffe und jede noch so kleine Steigung schieben muss, während mich diese französischen Bergziegenradler mit Karacho überholen. Dass ich dermaßen durchs Gebirge muss, hätte ich mir nicht vorgestellt. Ein Arbeiter am Straßenland lacht: „Den Pass gemacht mit dem Ding? O lalala“ . 

Sehr romantisches Lognon-Tal
Das Lognon-Tal lädt zu romantischer Rast. Fast senkrecht fallen Kalk und Granitschluchten ab, bewachsen von einem Urwald mit seltenen Pflanzen, mit deren Untersuchung ich mir die Zeit beim Schieben vertreibe. Schließlich kann ich gar nicht mehr in die Pedale treten, selbst wenn es nahezu eben ist. Kurz vor Yssingeaux, schöner Name, erinnert mich an Isengrim oder Isabeau, gestehe ich mir um 18 Uhr ein, dass ich es unmöglich schaffen kann, noch 30 Kilometer durch dieses Gelände zu radeln. Für eine Nacht im Freien ist es zu kalt. 
Nach zwei Bieren in einem Restaurant kann ich fast schon wieder sprechen und die Barfrau telefoniert in ein Hotel namens Le Cygne, der Schwan, und das nehme ich als gutes Omen, ist doch der Schwan mein Lieblingssternbild. Eine große Porzellanente guckt nun vom Fenstersims in meinen Teller, auf dem es Schinken, die landestypischen grünen Linsen, scharf mit Pfeffer gewürztem Fisch sowie Reis mit Fleischbrühe gibt. Ich zeige auf die Porzellan-Ente und bemängele, das sei doch kein Schwan. „Nein, ist sie nicht“, sagt die Bedienung. Ein tolles Essen mit drei Gängen für 13.50. Fast so viel Gänge wie mein Klapprad.
Erst abends fand ich im Internet den Falk Routenplaner, der mir zeigte, dass ich mit meinem Klapprädle rund 1500 Höhenmeter gemacht habe. Will noch in die Stadt, kann aber keine zehn. Schritte mehr gehen und plumpse ins Bett. Seltsame Träume, in dem mein Bruder und ich versuchen, die Medikamente unserer Mutter zu richten, es aber partout nicht hinkriegen. Mir wird klar, dass ein Traum letztlich immer so aufgebaut ist, dass man in eine Situation kommt, die man nicht bewältigt kriegt, und es immer wieder aufs neue versucht. Sisyphus eben. Wann erwache ich?

28.04

Morgens Panik, weil ich den Fahrradschlüssel nicht finde, stelle alles auf den Kopf, aber er ist nicht da. Erst mal aufs Klo und in Ruhe nachdenken: Da ich mich kenne, weiß ich, dass ich den Schlüssel nicht einfach irgendwo verloren habe. Wenn er nicht in den Taschen ist, in denen er sein müsste, dann habe ich ihn garantiert im Schloss stecken lassen, und so war es auch. Gut, wenn man sich kennt. 
Die leicht ansteigende Dorfstraße schaffe ich nicht hochzutrebbeln, ich bin immer noch zu erschöpft von gestern, ich rette mich in den MacDonalds, in dem es normalen Kaffee gibt und Internet, verbringe dort den Vormittag und schreibe den

  
Bericht an die Königliche Akademie zu London von der Forschungsreise Dr. Stoltes ins Innere Frankreichs: 
Sehr verehrte Gentlemen, 
Nun ist unserer Expedition unter unsäglichen Mühen und Strapazen, durch Frost und Hitze, Sonne und Regen ins Innere des Frankenlandes vorgedrungen an ein Gebirge, dass hier das Zentrale Massiv genannt wird. Das Land ist komplett vollgestellt mit Landschaft – wohl der Touristen wegen. Wir sehen kurzkegelige Berge und tief eingeschnittene Schluchten, in denen schöne Flüsse sprudeln, die in der Landessprache Loire und Lognon heißen. Die Einwohner hier sind von kräftiger Natur, kurzrumpfig und rundköpfig und sprechen ein seltsam verderbtes Latein, das sie in erstaunlicher Geschwindigkeit hervorzubringen wissen. In ihren Versammlungshäusern ist ein langer hoher Tisch auffällig, an den sich zumeist die Männer lehnen, denen von einer schön angemalten Frau bunte Getränke kredenzt werden, die sie unter großem Gelächter zu verzehren pflegen. Überhaupt scheinen die Frauen hier die Häupter der Stämme zu sein, und ein jeder Mann wird mit mon soeure angeredet, dass ich mir als „meine Schwester“ übersetze. Anderer Meinungen nach wollten die Menschen unsere arg zerschundenen Gelenke heilen, in dem sie uns dazu rieten, einen Bader aufzusuchen. Jedenfalls rufen sie ständig „Masseur Stolte“. Darüber aber sind sie geduldig und freundlich. Als ich heute früh in einer Markthalle ein neues Untergewand kaufte, hatte sich ausgerechnet in der Schlange an der Kasse der Reißverschluss meiner Hose dermaßen verklemmt, dass ich meine Geldkarte nicht aus Tasche bekam, und wir mit vereinten Kräften den Reißverschluss öffneten mussten, worauf ein Herr sehr verständnisvoll erklärte, mit solchen Karten habe man oft technische Probleme. 
In bunten Buden, die sie Essenzposten nennen, füllen sich die Eingeboren Essenzen in kleine metallene Wägelchen, die einen schrecklichen Lärm machen und entsetzlich stinken, woran die Eingeborenen aber eine große Freude zu haben scheinen. Diese Wägelchen steuern sie mit vielem Schellenklang nicht nur halsbrecherisch in Kurven, sondern schanzen damit auch über kleine Betonkissen, die sie am Eingang Ihrer Dörfer angebracht haben, wohl zu ihrem Gaudium. 
Wir glauben auch, erste Spuren der verschollenen Expedition Dr. Livingstones entdeckt zu haben. Jedenfalls finden wir immer öfter am Straßenrand zerrissene Wettscheine, Bierbüchsen und erbrochene Baked Beans.
Wir sind uns jedoch noch unschlüssig, welche Worte wir wählen würden, sollten wir den verschollenen Dr. Livingstone tatsächlich hier im Herzen des Frankenlandes finden. Unsere Ideen schwanken von: „Was geht Alter?“, über „Wallah Lan!“, bis zu „na Doc, endlich auch nen Parkplatz gefunden?“
In der Hoffnung, die Boten mögen diesen Brief unversehrt bis zum nächsten Außenposten der Zivilisation bringen, 
Ihr ergebenster 
Dr. Stolte

Haus eines Eingeborenen

Mein Jakobsweg – Mon Chemin 6

23.4. 

Cluny versinkt im Regen, Es tropft auf die Ruinen der einst größten Kirche der Christenheit, es rinnt im Kreuzgang, es meuchelt im Archäologischen Museum, und ich verkrieche mich in eine Bushaltestelle zum Mittagessen. Dann los, benutze das Handy als Kompass, Karte und Wegweiser. Weil es ständig draufregnet, wische ich es an der Hose ab, schalte aber dadurch irgendwelche Funktionen ein, die meinen Akku nach einer Stunde aussaugen. Ich irre in den Bergen umher, mache den Fehler, einen Autofahrer nach dem Weg zu fragen, der mich auf irgendwelche Umwege schickt. Natürlich Autofahrer und Fahrradfahrer denken völlig verschieden, weil für eine Autofahrer keine Höhenmeter und keine Strecken zählen. Im Tal der schönen Grosne, weiße Kühe, dunkles Grün und eine Steigung, die nicht enden will. Restaurants preisen Kalbsköpfe an, hätte einen essen können, aber das hätte ja nichts genutzt, die wachsen immer wieder nach. 

Cluny , Hutschachtelhäuser und Ruinen

Unter Wind und Regen weiter durch das Grosne Tal. Etwa 15 Kilometer radle ich bis zur absoluten Erschöpfung immer bergauf in S-Kurven über die Straße, um die Steigung zu minimieren, Will nicht schieben wegen meiner Haxen und weil es dann auf den Sattel regnet. Dünner Regenwind pfeift durch ein Bergdorf. Er hat die Dorfjugend hinter ein Kronenbourg-Schild in eine Bar gescheucht. Dort trocknen die Kerle die Jacken an der Heizung und warten, bis die Besitzerin den Fernseher anmacht, für Fußball.
Sie hat sich den Kopf mit blonden Haaren und knallrotem LIppenstift verziert, gießt in aller Seelenrunde Schnaps aus und lacht ein lautes ehrliches Lachen ohne doppelten Boden. 
Nach dem Woher und Wohin erklärt sie mir, dass mein Quartier auf einem ganz anderen Berg liegt und lacht wieder, befreiend und groß. „Hast du ein Licht am Fahrrad?“, fragt sie mich. Es ist schon sechs Uhr, als ich frierend die 15 Kilometer regennasse Straße wieder zurück rolle. 
Manchmal lohnt es sich, für ein richtiges Lachen auf den falschen Berg zu fahren. 
Es geht wenigstens etwas ebener nach Ouroux, Tritt um Tritt. Am Ortseingang erfahre ich, dass ich noch 1,8 Kilometer hoch in den Wald muss nach Gros-Bois

Mitten im Wald . Das Schloss Gros-Bois

Im letzten Abendlicht erreiche ich ein Schloss, verwachsen in Eiben und Dunkelheit. Höre Stimmen, öffne die Pforte des Palais, wieder Stimmen, noch eine Türe, dann stehe ich in einem holzgetäfelten Raum mit Standuhr und Lüster, an einer Tafel sitzt ein Dutzend Greise und Greisinnen vor lehren Tellern. Ein grauhaariger Mann springt auf, „guten Abend“ wünscht er auf Deutsch, eilt heran, bringt mich nach draußen verschwindet mit meinem Fahrrad. Ob er Graf Dracula heiße, frage ich ihn vorsichtshalber: „Nein pas du tout – überhaupt nicht.“
Er spricht das weiche Französisch der Gegend, vor 37 Jahren hat er das Schloss mit zehn anderen gekauft und seitdem ist er hier und betreibt die Herberge. Die Greisen-Truppe ist eine Französische Pilgergruppe, die ein Stück Jakobsweg gemeinsam machen, die Bürgermeisterin haben sie mit und einen Journalisten wie sie ihn scherzhaft nennen, weil er einen Bericht für das Lokalblatt schreibt.
Ich erkläre ihnen, es sei wie ein Traum. Den ganzen Tag hätte ich mich durch Regen, Kälte und Berge gekämpft und jetzt säße ich hier in einem Aristokratenzimmer, vor einem leichten Viergänge Menü: Salat, Reis mit Fleisch, Käse und Torte.

24.4
So weit bist du gekommen, für was, für wen: Adlerfarn hebt die die dünnen Ärmchen, das Pink einer Orchideenblüte leuchtet wie ein Scheinwerfer am Bankett der Straße.
Ich schaue meinem Vorderrad nach, wie es über den Asphalt rollt, Dreck hängt dran, die letzten Kilometer bis Lyon. Alle Räder auf allen Straßen sehen gleich aus. 
Vom Schloss ging es erst über sandige Waldpfade nach oben, dann zog ich einen Hügel hoch, wenn Rennradfahrer unterwegs sind wird es gefährlich merke ich, denn in Frankreich suchen sie sich immer die gemeinsten Steigungen aus, um sich warmzufahren. Ich fahre mich kalt, dicke schwarze Wolken rollen heran wirbeln auch zwei Schneeflocken mit, ein kleiner Service für mich, dass ich angeben kann, ich hätte mich durch Schnee, Regen und Sonne nach Santiago gekämpft. Sollte ich jemals das angekommen. Ich steige ab zu einem Col de Crie. Mir wird langsam klar, warum das Radfahren in den letzten Tagen so beschwerlich war, ich muss irgendein Gebirge erklommen haben. Jetzt rolle ich zitternd in das Tal des Beaujolais, bleibe auf einer Umgehungsstraße, scheiß auf den Verkehr, Hauptsache bequem. Würde gerne schreiben, dass ich nicht mehr konnte, aber ich konnte ja noch, sonst könnte ich jetzt nicht mehr schreiben, dass ich nicht mehr konnte. 
Die Weingüter haben die Landschaft zersiedelt und werben mit bunten Schildern für die krüppligen Gewächse am Straßenrand, die aussehen wie verbrannte Wurzeln. Müsste wohl Wein kaufen und den zu Wurst und Käse trinken – das Pilgern muss leichter werden! 
An den langen Lyoner Ausfallstraßen gibt es Radwege, endlos ziehen sie sich. 

Darauf ein Bierchen

Lyon am Abend, ich frage in der Bar nach Strom und einem Kaffee, gibt es nicht, draußen fragt mich ein Mann, ob ich Drogen will, will ich nicht. Folge dem Strom ins Stadtzentrum und habe die gigantische Busspuren als Fahrradspuren für mich. Sie bringen mich in ein winkliges Altstadtquariter, das sich unter einem Stück Stadtmauer duckt, und eine Horde wildgewordener Jazzclubs beherbergt. Ich will hierbleiben. Das tue ich auch. Ich hab das mir verdient.
Bringe meiner Gastgeberin bei, wie man indischen Tee kocht. Als alles fertig ist, stellen wir fest, dass wir keinen Tee haben. Das Getränk ist sehr in Ajurvedisch, meint sie, und bestimmt gesund. 
Ich habe Albträume und sehe meine erste Liebe wieder, sie trägt schwarz: Dass man das nie im Leben vergisst. 

25.04 
Lyon 
An den Kais stehen fünfstöckige Stadthäuser. Auf die blinden Fassaden haben sie Fenster gemalt, von denen herab die berühmten Persönlichkeiten der Stadt die Gäste grüßen, die Saône und die Rhone fließen hier zusammen. Selten so eine übersichtliche Stadt gesehen, obwohl sie, wie jede anständige menschliche Siedlung, völlig zugebaut ist, denn man kann sich immer an den Flüssen orientieren. Blitzend ins Licht gestellte dünne Häuserzeilen. Darüber wachsen die Kathedralen und Kirchen, am mächtigsten St. Jean. Mit sehr fragilen Türmen und wagemutigen Erkern thront eine weiße Kirche über der Stadt, da wo die römischen Theater sind, das hiesige Neuschwanstein. Die Gebrüder Lumiere sind aus Lyon, aber am Montag haben die Museen zu. Ich finde endlich heraus, dass mein Akku nur noch Schrott ist und versacke im Apple Store. Sightseeing 2015, auf den Holztischen des Applestores im Internet die Sehenswürdigkeiten angucken. Die Müdigkeit läuft aus mir heraus und sammelt sich unter dem Barhocker des Applestores zu einer Lache aus Trübsal. Muss mal wieder auf die Beine kommen.
Vier Dinge, die man in Lyon tun muss, um sofort als Ausländer erkannt zu werden:
– Auf Französisch nach dem Weg fragen und kein Wort von dem verstehen, was man geantwortet bekommt.

Mit dem Fahrrad an einer roten Ampel anhalten.
Mit dem Fahrrad an einer grünen Ampel weiterfahren, obwohl zwei schicke Mädchen über die Straße wollen und die Autofahrer Vollbremsungen hinlegen.  
– Mittags in einem Restaurant aufkreuzen, wenn der Besitzer gerade die Trümmer der zahllosen Mittagessen in den Müll schmeißt, drei Bier hintereinander trinken, und ihn dann auch noch aus dem Nebenraum zerren, in den er sich erschöpft gerettet hat, um die Rechnung zu verlangen. 
Sein Fahrrad mit in ein Einkaufszentrum nehmen, damit es nicht geklaut wird, es dort an der Rolltreppe abstellen, auf dem Rückweg merken, dass es verschwunden ist, das Sicherheitspersonal aktivieren, das irgendwelche Sicherheitspersonalbosse auf den Plan ruft, die einem erklären, dass sie das Fahrrad in den hintersten Winkel der Tiefgarage gestellt hätten, weil man keine Fahrräder an der Rolltreppe anbindet, und einem dann in der Tiefgarage zuschauen, wie man das Ringschloss aus den Speichen windet, in das es sich geschoben hat, als der Sicherheitsboss das Rad in die Tiefgarage bugsierte, und zu guter Letzt noch den Rat bekommen, weil man aus der Tiefgarage nur völlig verbotener Weise über die Lieferantenausfahrt entgegen der Fahrrichtung auf eine sechsspurige Stadtautobahn radeln kann, man solle auf den Verkehr achte, denn es habe viele Autos. 
„Il est etranger“, erklärte der Wachmann dem Sicherheitsboss mit dem Unterton des Kenners. Gut geschultes Fachpersonal lässt auch den stressigsten Einkauf zu einem reibungslosen Unterfangen werden. 
Sollte vielleicht noch hinzufügen, das der Apple Store in New York eine gemütliche Rentnerplantage ist, gegen den Apple Store in Lyon. Der ist dafür biblischer. Überall hat es Schlangen. Man muss auch nur dreimal hin: Einmal, um zu sagen, dass der Akku von IPhone am am Arsch ist, das zweite Mal, wenn man zu dem Termin geht, an dem der Techniker checkt, dass der Akku am Arsch ist, und das dritte Mal, wenn das Handy fertig ist. Die Wachmänner grüßen mich stets freundlich und geben mir gute Worte auf den Weg. Sie vermeiden das Wort „bicyclette“.
Verproviantiere mich in einem Supermarkt. Überall das Gleiche, es ist kaum möglich, Produkte aus der Region zu kaufen. Abgedrängt in einer Ecke des Weinregals finde ich schließlich eine Flasche Beaujoulais. Nicht mal Paprika-Lyoner gibt es hier. 
Breit und Gotisch drängelt sich die Kirche St. Jean aus den Fassaden des alten Lyon und guckt auf die Saône. St. Jean ist aus weißem feinem Marmor gehauen, ganz glatte, ganz ebene Formen. Ich zünde eine Kerze an für einen guten Freund, den es erwischt hat, vermutlich Krebs, so wie sich die Trauerkarte angehört hat, die mir sein Bruder schickte. Die Einschläge kommen näher. Was ist Zeit? 
Meine Gastgeberin heißt Anais, ist halb Italienerin und sie ist ziemlich rumgekommen, hat mit Obdachlosen in der dritten Welt gearbeitet. Wohnt jetzt in einer winzigen Wohnung, die im elften Jahrhundert erbaut wurde. Die Farbe blättert von den Wänden. Sie ist jemand, der freiwillig in Armut und Einsamkeit geht um Leuten zu helfen, denen nicht zu helfen ist und die daran kaputt geht. Ich sage, versuche eine Distanz zwischen dir und den Obdachlosen zu schaffen. Sie duldet nicht, dass im Restaurant was übrig bleibt, weil sie es nicht sehen kann, wenn Lebensmittel weggeworfen werden. Als sich der Kellner weigert, für den Rest Reis ein Schälchen zu bringen, isst sie ihn auf. Das machte ihre Zeit in der Dritten Welt, kenne das. Sie hat sich auch mal eine Amöbenruhr geholt. Sie denkt wie ich denke, ich merke, dass nicht mehr die Staats- sondern die Altersgrenzen die Mentalitäten trennen. Für sie sind die Deutschen die Helden, vor allem wegen der Energiewende —- „Nein wir haben keine Angst mehr vor den Deutschen“, sagt sie. Frankreich sei erst in den letzte vier Jahren so ökologisch geworden. Sie hatte lange in Kolumbien gelebt, als sie zurück kam, war ihr die Veränderung dermaßen aufgefallen.
Möglicherweise sind die Städtepartnerschaften dran schuld, dass sich Deutschland und Frankreich angleichen – – – – ich musste gestern lachen, als ein Schild am Ortseingang von Anse verkündete, Partnerstadt von Loßburg: Da war ich vor drei Wochen durchgelaufen, jetzt bin ich bis zu seiner Partnerstadt geradelt, etwa 800 Kilometer zurückgelegt. Wenn das der Bürgermeister von Loßburg wüsste, vielleicht dürfte ich dann an einer Bushaltestelle ein Bier trinken, ohne Schadensersatz leisten zu müssen.  
Wir schreiben. Sie muss eine Übersetzung machen für einen NGO Newsletter, ich beginne endlich die beste Kinder-Geschichte der Welt. Komme in den Schreibfluss, weiß nicht, wer das kennt. Das Geschehen läuft dann in meinem Kopf ab wie ein Kinofilm, ich sehe tatsächlich die Figuren in Ihrer Umgebung sprechen und handeln auf einer großen Leinwand in allen Farben, und ich muss nur zuschauen und abschreiben, was sich sehe. 
Abends kocht Anais einen vegetarisch, veganen, ayurweda Salat mit Nüssen. Ich stopfe meine Schakras in den Schlafsack, mache ihn oben gut zu und lasse meine Seele zusammen mit den Gebetsfahnen am Fenster ins Nirwana flattern. Wieder Albträume, doch kann ich sie nicht fassen, sind mehr wie fernes dunkles Wetterleuchten. 

Jakobsweg Teil 5 Mon chemin

Immer noch der 18.4
Bin bei einer Künstlerin untergekommen: ein Quadratmeter Tisch drückt zwei Sofas an die Wand. Auf kleinen Simsen reihen sich Gemälde und Gips-Figuren. Ihre Sachen, Lauras Sachen. Sie wohnt mitten am zentralen Platz von Besancon vor der Kirche St. Paul. Sie hat Humor und Sinn für die Formen, ihre Figuren wollen wie Lehmbrucks nach oben, die Linien der Körper spreizen sich hoch wie Blütenblätter. Auf dem Küchentisch prangt ein männlicher Torso, aus Gips, Platre heißt das auf französisch. Sie kommt aus Barcelona und lebte ihre Leben lang in r 

Die Porta Nigra in Besancon
Altbauwohnungen mit diesen hohen Decken — vielleicht daher die Sehnsucht nach Höhe. Au Fond am Teetisch gibt es Nudeln und Rotwein, den sie Flaschenweise in mich kippt. 
Wir haben die gleichen Iphones: Ich bringe ihr bei, wie man Siri nach dem Sinn des Lebens fragt, und erkläre ihr die Antworten. Sie sagt, man muss einfach drei, vier Siris miteinander kommunizieren lassen: Ich entwerfe eine Sinfonie für 40 Siris, die versuchen, miteinander zu sprechen, und stelle mir vor, wie sie sich in der Metropolitan Opera in New York zu einem mächtigen Stimmengewirr vereinen, das aufschwillt und abebbt und das man den dooferen Leuten unter dem Publikum und der Presse als Vereinzelung des Individuums in der Postmoderne verklickert.
In New York hatte ich ja Rodins Bürger von Calais gesehen, ich lobte die mutigen gestreckten Proportionen der Körper. Sie erklärt mir, dass man als Bildhauer, die Füße immer viel zu groß machen muss, damit die Statik der Figur stimmt, und weil das so ist, auch die Hände und die Köpfe, damit die Proportionen stimmen. Endlich verstehe ich den David Michelangelos.
Hatte die unproportionalen Hände und Füße für das Heraufdämmern der Moderne gehalten. Ich komme darauf, dass die ganze Kunstgeschichte nur solches an den vergangenen Kunstwerken gut findet, was auf den gerade herrschenden Kunststil Bezug nimmt. Bei Vermeer sind es die duftigen Striche (der Beginn des Impressionismus), bei Goya die Farben und überdrehten Proportionen (der Beginn des Expressionismus), „mais non“, sagt Laura, Goya hat wahnsinnig gute Proportionen. Aha und nun? Meine Theorie fällt zusammen, wie ein Kartenhaus. Ich erkläre stattdessen, dass ich das abstrakte Zeug nicht mehr sehen kann. Sie interessiert sich für den Kram nicht. Macht lieber Kunst. Ein Projekt nach dem anderen. Sehr schöne Sachen. Sie verkauft und hat dann wieder Platz für Neues. 

19.04
Die Zeit ist kostbar. Die Zeit ist so kostbar, dass sie ihr in Besancon ein Museum hingestellt haben, denn alle kostbaren Dinge landen im Museum. Das Musée du Temps in einem alten Adelspalast. Im Glockenturm hängt ein  

Mechanik wie Geschmeide
 Fouceaultsches Pendel herab. Von einem Fenster oben stürzt sich der Blick herab, gierig wie ein Selbstmörder, bis in die Tiefe, wo ganz unten, ganz klein die Messingkugel schwingt. Aus der Tiefe, de profundis, ein Eindruck für die Ewigkeit. Grube und Fouceaultsches Pendel. Das ruhige Fortschreiten der Messingkugel in dieser Tiefe, wo sie einen Kreis bunter Kartonpfeile nach hinten schiebt, als würde sie über einer Blume schweben.

Was ist Zeit? Wir kommt es so vor, als seien die sich drehenden und tickenden Apparate von aller Zeit abgekoppelt. Vielleicht sollte man das Vergehen von Zeit nicht an immer gleichen Bewegungen, sondern an Veränderung, Entwicklung messen. Sie haben wunderbare alte Uhren im Museum, die ihre Zahnräder und Mechaniken präsentieren wie Geschmeide. Flugs eine Dissertation verfasst über die Frage, wann das Innenleben von Maschinen aufgrund ihrer Präzision so ästhetisch wird, dass es nach außen wandert und sofort eine Linie gezogen, von der Uhrenindustrie Besancons zu Hayeks Swatches und den IMacs der 90er von Steve Jobs. 

Abends wieder Wein, Nudeln, und Laura. Was ist Zeit? Spreche ich von meiner Arbeit, hört sie höflich zu. Wenn ich aber von meinen Romanen, Geschichten und Gedanken erzähle, lauscht sie begeistert. Sollte mir zu denken geben. Tut es auch.

Ich kämpfe mit dem Weg, er ist mal da und wieder nicht da, ich fasse ihn nicht. Bin ganz unglücklich. Hier in Besancon flieht er vor mir wie das Ende eines Regenbogens, der sich genau so schnell entfernt, wie man ihm hinterher rennt. 
Einmal in meinem Leben bin ich an das Ende eines Regenbogens gekommen, ich fuhr über die Bundesstraße nach Stuttgart, direkt hinein in den Regenbogen, der sich in einzelne Regentropfen auslöste und der Wind war so schnell wie mein Auto und ich fuhr mit dem Regenbogen wie ein Wellenreite´ und um mich herum waren lauter goldene Regentropfen, alles um mich war golden, und ich verstand die Legende, dass am Ende eines Regenbogens ein Topf voller Gold steht.  

20.04
Hochauf ragt die Kirche in Dole über der Stadt. Ein Organist verwandelt die Kathedrale in ein dröhnendes Herz, in eine Glocke, die Schönheit nach außen schallt. Versuche zu fühlen, was die Menschen im Mittelalter fühlten, wenn sie aus ihren zwei mal zwei Meter Zimmern mit Lehmboden in solche Räume traten. Dieses überirdisch übergroße Schiff, in dem jeder Stein vom Orgelklang vibriert. Abendsonne macht aus den Kirchenfenstern funkelnde Teppiche, die biblische  

 Geschichten erzählen, die Figuren darin treten aus den Fenstern und wandeln auf den Tönen und den Wegen aus Klang. Vom Kirchenschiff herab fallen weiße Schleier. 
Unter den Arkaden ein Gemälde. Ein weißgewandeter Jesus mit einer Schusswunde schwebt über tote Soldaten hinter Drahtverhau, darunter die Namen der Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Seemanspfarrer, den ich mal interviewte, sagte: „Auf manche Fragen gibt es einfach keine Antwort.“
Unten in der Stadt klebt das Muschelzeichen an einer Mauer. Der Weg ist wieder da.
Der Sinn des Pilgerns: Hatte mir ein Besancon ein Klapprad gekauft und war jetzt den ersten Tag unterwegs, das war der schönste meiner Pilgerreise. Die Doubs breitete eine smaragdene Spur, die Überschwemmung gab ein jungfräulich reines Land frei, ein sanfter Rückenwind schob mich nach Dole. Grund zu feiern:  
Die Zigarre, die ich in Santiago zu rauchen gedachte, hat allerdings leichte Schimmel-Fäden, war wohl die letzten Tage zu viel Regen. Die Bar im ehemaligen Templer-Maison ist zu, aber gegenüber ist offen für Bier, Tabak und Schreiben. Ein hübsche Frau kommt an die Tische vor der Tür und knutscht die ganzen Kerle. Mist, ich will auch Franzose sein! 
Aber, was zum einbeinigen Henker ist eigentlich aus den Franzosen geworden? Sie fahren Liegerad und qualmen E-Zigaretten. An jeder Ecke steht ein Plastiktüten-Spender für Hundescheißetüten. Die Radwege sind beschildert wie der Weg zum einen Flughafenterminal, sowieso asphaltiert wie eine Autobahn und die Abfahrten sind gepflastert mit Verbotsschildern. Die sicherste Bastion der Freiheit in Europa gerät ins Wanken!! Flugs einen Science Fiction Roman über den unbarmherzigen Terror der Ökokratie verfasst. Der Grüne Bruder sieht alles, jedes ungrüne Verhalten wird unbarmherzig denunziert. Gallische Dörfer sind vage Erinnerungen dementer alter Männer.
Ich qualme meine Zigarre, ich liebe die letzten Zentimeter am meisten, wenn der Rauch heiß und der Tabaksaft süß auf der Zunge schmeckt, bis sie zu heiß wird und ich sie loslassen kann, damit sie in Ruhe ausgeht in Asche und Zeit. 
Ein sehr gebeugter Herr im elektrischen Rollstuhl grüßt mich, fährt an die Tische, spricht mit den anderen Gästen draußen auf der Straße. Der Wirt kommt raus und legt ein Brett an die Türschwelle, damit der Herr in die Bar rollen kann. Vielleicht sind sie doch noch Franzosen. 
Statt der Niederschrift eines eingeschnappten Romans lieber eine Kneipe aufgemacht, die „Zum einbeinigen Henker“ heißt. Dort gibt es nur Bier und Fleisch an Spießen.

21.4

Der Mensch ist einfach nicht für das Leben unter freiem Himmel gemacht. Scheint mal einen Tag die Sonne, dann kriegt er einen Sonnenbrand, und wenn es regnet wird er nass.  
Wohin soll ich pilgern, wenn diese Reise zu Ende ist? Jetzt erstmal nach Chalon-Sur-Saône.
Das Klapprad, das ich in Besancon erstand, ist tatsächlich das erste neue Fahrrad, das ich seit meiner Konfirmation gekauft habe. Sonst immer nur gebrauchter Schrott, an dem ich jahrelang repariert habe. Meine Eltern haben mir natürlich einmal ein Fahrrad geschenkt. Es war ein orangenes Klapprad von Quelle ohne Gangschaltung, ich taufte es liebevoll Uhrwerk Orange, kannte den Film natürlich nur dem Namen nach, war ja erst elf oder zwölf. Auf den Rahmen habe ich das Abziehbild eines Rennwagens geklebt. Man bekam, wenn man beim Bücher Bernd in Plochingen ein Buch kaufte, ein Abziehbild geschenkt. 
Manchmal, wenn ich ein orangenes Klapprad sehe, spähe ich unwillkürlich nach dem Bebber. Damals fuhr ich bis zu 80 Kilometer am Tag und konstruierte mit meinen zwölf Jahren in Gedanken eine Lenkerheizung aus einem Glühdraht, den ich an den Fahrraddynamo anschließen wollte. Stampfe demnächst ein Lenkerheizungs-Imperium aus dem Boden und werde reich.
Die Nationalstraße ist mir zu gefährlich und so mäandriere ich mit den Nebenstraßen entlang nach Westen, radle mich in Trance, aus dem mich ein Schrei von Gelb weckt: Rapsfelder auf einmal. Heller, intensiver, süßlich modriger Geruch. Bleibe lange sehen und stehen. 
Kämpfe mich durch eine moderate Berg und Tallandschaft „Bresse“ genannt, die sich vor Chalon sur Saône fläzt, und stelle, als ich versuche, nach dem Pinkeln über einen Graben zu springen fest, dass es keine vernünftigen Metaphern für Schmerz gibt. 
Es schoss ihm wie flüssiges Blei durch die Achillessehne ist doch Quatsch, schießt es mir durch den Kopf, als mir der Fuß umknickt. Es weiß doch kein Mensch, wie sich flüssiges Blei anfühlt? Vielleicht einfach sagen, der Schmerz war so heftig, dass mich umhaute? Aber letztlich hieb mich niemand um, es war das Gefühl, als würde ein Knoten in meiner Achillessehne zweimal durch ein Nadelöhr in meiner Ferse gedrückt, der Schock und der Schmerz ließen mich schreiend ins Gras krachen.
Ich schaffte es, bis ins nächste Dorf zu radeln, bat die Tabac-Bureau-Frau, mir ein Taxi nach Chalon zu holen, und eine mitleidige Mitfünfzigerin kutschierte mich zu meiner nächsten Couchsurfing-Adresse. Als ich versuchte, aus dem Taxi zu steigen, wurde mir klar, dass das keinen Wert hatte. Ohne Geld zu verlangen, brachte mich die Frau ins Krankenhaus und blieb bei mir, bis die Formalitäten erledigt waren.
Nochmal Glück gehabt. Nichts gerissen, sagt der Doktor, aber sie wird reißen, wenn ich so weitermache, Jetzt weiß ich, was Talon D’achille auf Deutsch heißt, dass die französischen Krankenhaus Ambulanzen genauso voll sind wie in Deutschland, dass der Handwerker neben mir, von dessen Unterarm ich nur ein blutiges Handtuch sehe, ebenso lange warten muss wie ich, aber ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll. 
Vielleicht bleibe ich eine Woche in Taizee, schreibe für meine Töchter die schönste Kindergeschichte der Welt, schick den ganzen Krempel, der mein Gemüt und mein Gelenk belastet nach Hause und fahre mit dem Zug Richtung Pyrenäen, um dort mit kleinen Wanderetappen wieder anzufangen.  

 

Mein Jakobsweg – Teil 4

15.4. Montbeliard
Diskutiere während der Autofahrt mit Murrat über Religion. Kommen überein, dass alle Religionen das Gleiche sagen, und dass man die Religion des Anderen respektieren müsse. Dann bete ich, während wir über die Autobahn fahren. Denn Murrat, der Fahrer, braucht auch bei 140 Stundenkilometern, wenn er über Religion spricht beide Hände zum Gestikulieren. Meine Gastfamilie wohnt in Etupes, wo Murrat in einer anderen Zeit und in einem anderen Leben als kleines Kind in Frankreich gelandet ist mit seinen Eltern, als Sechsjähriger. Er fährt mich zu einem Banlieu-Block, da sei er aufgewachsen, erzählt er voll stolz, deutet auf eine phantasielos zusammen betonierte Bude nebenan, „und das war meine Schule“, sagt er noch stolzer. „Es regnete und ich sah, dass alles grün war, weißt Du in meiner Heimat beten sie für den Regen, und ich dachte, ich sei im Paradies.“ In der ersten Nacht war Schnee gefallen, und er hat seine Mutter wachgerüttelt und gerufen, „Mama schau, da ist alles voller Zucker, wir müssen ihn holen.“

Murrat küsst mich zum Abschied, wie das Freunde tun. 
Meine Gastfamilie hat ein kleines Kind, so wie meines. Ich bestaune in der Küche eine Maschine namens Babycook, in dem man entgegen des Namens keine Babys sondern Gemüse im Dampf kocht und gleichzeitig zu Brei mixen kann. Wenns piept, ist es fertig. Wie praktisch, dann muss man nicht immer diese Gläsles-Zeug kaufen. Sie sind beide Polizisten, die Frau, Karine, konnte irgendwann nicht mehr. Die Gewalt und die Besoffenen, die viel zu laxen Gesetze, die Nutzlosigkeit des Kampfes und die Aggression des Berufes hat sich nicht mit den zwei Babies vertragen, die sie jetzt mit großer Freude großzieht. Ich kriege die Spezialität von Montbeliard serviert, gebratene Wurst mit honigartigem Käse. Und jede Menge Calvados aus einer alten Saftflasche vom Opa. Als mein Gastgeber nicht mehr reden kann, täusche ich eine Unpässlichkeit vor und bitte um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen. Einen gravierenden Unterschied gibt es unter uns gescheiterten Idealisten, wie Polizisten und Journalisten nun mal sind. Die Bullen vertragen nichts. 

16.4.
Ich trabe auf dem Radweg entlang des Flüsschens Doubs nach Montbeliard. Hier ist Hölderlin gegangen, mit Sicherheit, als er auf dem Weg von Tübingen nach Bordeaux den Verstand völlig verlor. Er sei vom Apoll geschlagen worden, hatte er notiert. Wenn mich Apoll schlägt, dann schlage ich zurück, notiere ich. 

 

Vier Dreiecke ergeben ein Viereck (Jean Puy , Museum Montbeliard)
 
 Im Tourist Office wird mir erklärt, dass der Radweg 160 Kilometer an der Doubs entlang führt bis Dole. Schön eben und kein Schlamm, so pilgert es sich besser. Ich lasse die Schlammtrasse, da wo sie hingehört, im Wald und beschließe, auf dem Radweg zu bleiben. Statt in Pilgerherbergen zu frieren, will ich Couchsurfing zu betreiben. 
Das Stadtschloss der Ducs de Wurtemberg
     
In Montbeliard sind die Ducs de Wurtemberg lebendig, die hier einst regierten. In den Museen stößt man auf sie und auf den württembergischen Hofbaumeister Heinrich Schickhardt. Ihm haben die Mömpelgarder einen eigenen Parcous gewidmet, der den Besucher von der einen Schickhardt-Kirche zur anderen führt. Mich müden Mann führt der Weg in eine Bar am Marktplatz, die von fünf alten Biertrinkern eher ent- als bevölkert wird. 
Meine Achillessehne klingt langsam ab, aber besser ruhen. Das Problem beim alleine Wandern ist, dass man auf seinen Körper zurückgeworfen ist und Wehwehchen stärker wahrnimmt. Die beiden wunden Stellen an den Hüften, ist das jetzt bloß aufgescheuert vom Laufen oder Gürtelrose? Ich entscheide mich für Hautkrebs und bestelle noch ein paar Bier, schließlich gibt es im Himmel kein Bier und wann hat man schon einmal einen Blick auf eine Schickhardt-Kirche in Frankreich?

 

Da hat ein Übersetzer eine Menge Humor gehabt. Ich gehe jetzt die Vitrine mit dem Schluckspecht suchen (Schlossmuseum in Montbeliard)
 
Vor der Kneipe hält ein Porsche und sorgt für den ersehnten Gesprächsstoff, auf den die fünf schweigenden Gesellen seit drei im Bier versunkenen Stunden gewartet haben. 
„Cinqante mille Euro!“
„C’est coupé“, verstehe ich, „Moteur central?“
„Hybrid“, kontere ich und steige sofort in der Achtung der Barvögel.
„Super Jolie“, wird mit generös beschieden.
Darauf noch ein paar Kolben. Ich wanke ins Hotel. 
Mein Rucksack muss leichter werden, und ich trenne die Henkel der Stofftasche ab, in die ich meine Isomatte gepackt habe, lasse anschließend den Saum heraus, damit die Tasche länger wird und die Iso-Matte besser reinpasst. So erschaffe ich mir einen Schonbezug mit nichts als Nadel und Faden.
Es folgt das Lob der Nähnadel: Ein Stück Draht mit einem Loch drin, wiegt nichts, hat keine mechanischen Teile und keine Batterien. Es gibt kein einfacheres Werkzeug, mit dem man so großartige Dinge erschaffen kann wie mit einer Nadel: Kleider, Hauben, Hüte, Hemden, Modekreationen, Fallschirme, Flugzeugbespannungen, kathedralengroße Gobelins?
Nach dem Lob der Nähnadel hat sich eine Couch-Surferin gemeldet, die mich übermorgen aufnimmt. Na ja, für morgen habe ich ein Hotel.

17. 4
Als die wackere Frühstücksfrau sieht, dass ich Deutscher bin, radebrecht sie in einem Englisch, das dermaßen schlecht ist, dass ich Mitleid bekomme, weswegen ich zurück radebreche in einem Französisch, das dermaßen schlecht ist, dass die Frühstücksfrau Mitleid bekommt und weiter auf Englisch radebrecht, was mich wiederum, etc. so geht das eine Weile weiter, bis sie auf die Idee kommt, den Fernseher einzuschalten und Ruhe in den Köpfen ist.
Es hat die ganze Nacht geregnet und regnet noch. Ich folge weiter dem Radweg. Topfeben und kerzengerade am Jachthafen von Montbeliard, dem Doubs und dem Kanal der Doubs entlang. Immensens Hochwasser, das aber jeder hier gelassen nimmt. Oder heißt das „der Doubs“? Ein Fluss sollte weiblich sein, die schöne Garonne —- flugs eine Dissertation verfasst, wann Flussnamen weiblich oder männlich sind. Sächlich sind sie nie. 
Es regnet und regnet weiter. Die Regenwürmer auf dem Radweg laden zu Allegorien und Wurm-Haikus ein, denn hin und wieder habe ich einen Wurm mit dem Wanderstock vom tödlichen Asphalt ins rettende Grün der Wiesen befördert. 
Man kann nicht alle Würmer retten, 

nur beten kann man für besseres Wetter.

Gelassen und ruhig stehen die Pferde, wenn es regnet.
Mit dem Regenschirm tief ins Gesicht gezogen, verpasse ich eine Abzweigung und bin auf einmal in einem Dorf namens Bavans am nördlichen Doubsufer. Nie zurück gehen. Ich folge den Straßen, rätselhaft und doch erklärlich sind die Überschwemmungen auf den Bergen. Rätselhaft weil Berg, erklärlich, weil auf Berg keiner mit Überschwemmung rechnet. Die Bäche sind aus den Kanälen gesprungen haben die Wiesen überschwemmt und rieseln in die Keller. 

Die Flut und die Schnecke!
 
Auf rechter Straße gelange ich, schon ziemlich am Ende, über eine Brücke, die den strombreit geschwollenen Doubs überspannt. In der Mitte des Bogens bleibe ich stehen und spiele ein Spiel meiner Kindheit, das nur funktioniert, wenn ein Fluss Hochwasser hat. Man kneift die Augen zusammen und blickt nur auf das Wasser und die Vorderkante der Brücke. Mit der Zeit hat man die Illusion, nicht das Wasser würde unter der Brücke durchströmen, sondern die Brücke führe über das Wasser. 
WWWWUUUUUUUSCH!!!! Ein Lasterfahrer donnert vorbei und zischt zwei prallgefullte Spurrinnen voll Wasser in meinen Rücken. Spielte wohl auch ein Spiel seiner Kindheit. 

 

Es sind nur 24 Kilometer bis Bassans. An einer Schleuse erwarten mich What’s Apps meiner Tochter Johanna, die ein Märchen und ein Gedicht geschrieben hat und mir per Sprachnachricht geschickt hat. Ich bin sakrisch stolz. Im Regen weiter über einen kleinen Hügel, der von der Doubs umlaufen wird, in den Flecken Rang zu meiner Unterkunft. Auf einmal geht es nicht mehr, die Achillessehne scheint in warmer Flüssigkeit und Schmerz zu schwimmen, ich muss in Schonhaltung gehen, werde so langsam, dass die Muskeln kalt werden und jeder Schritt schmerzt. Es regnet weiter; von den Hängen herunter stürzt sich das Wasser, reißt ein Bachbett in einen gewundenen Acker, dem ich bergab folge. Der neue Bach überquert zwei Mal meinen Pfad, ich schaffe es gerade so hindurch, ohne dass das Wasser in die Stiefel läuft. 
„Bitte anrufen“, steht an der verschlossener Tür meiner Unterkunft zwischen zwei verfallenen Häusern in einem herunter gekommenen Dorf. Aber das Telefon tut nicht. Ich klingle einen Nachbarn heraus, der für mich telefoniert: 60 Jahre alt, blonde falsche Locken, knallrotes Hemd, sieht aus wie ein alternder Alleinunterhalter. Kurz über die Erbärmlichkeit und den nie endenden Lebensmut alternder Alleinunterhalter einen Roman der Weltliteratur geschrieben. („Der alte Mann und das Xyolophon?“). Ich warte im Regen, fühle, dass ich so nicht weitermachen kann und bin genauso geknickt wie mein Regenschirm, dem die mittlerweile fast 14 Tage schlechtes Wetter die Gräten gebrochen haben. 
Madeleine, die Herbergsmutter kommt, ich bekomme ein japanisch eingerichtetes Zimmer, dekoriert mit einem Strohhut, sowie einem kirschblümigen Kimono und dito Bettwäsche. Ich sei der einzige Gast, sagt Madeleine, nein, ein Restaurant gebe es im Dorf nicht. Abends durchstreife ich das Haus nach etwas Essbarem, klaue im Kühlschrank etwas Wurst und Bananen, mache mir aus zwei Not-Marsriegeln und vier Brotscheiben zwei Marsburger, scheußlich ohne Ketchup. 

18. 4
Meine Reichweite ist auf etwa fünf Kilometer Wandern geschrumpft. So geht es, mal wieder im wahrsten Wortsinn, nicht weiter. Ich muss mir eingestehen, dass mein Plan total schief gelaufen war. Ich war zu schwer, wollte unterwegs mindestens zehn Kilo Fett abnehmen, damit das Anfangs zusätzliche Gewicht des Rucksacks von ebenfalls zehn Kilo damit aufgewogen würde, um schließlich locker so wandern zu können, als hätte ich kein Gepäck. Jetzt habe ich ernsthafte Probleme. Ich suche in den Falten meines Bauches nach einem Plan B. Klar der Plan B war, ein gebrauchtes Fahrrad zu kaufen. Ich könnte auch mit dem Zug nach Le Puy fahren, und dann nach ein paar Ruhetagen in ganz kleinen Etappen mich weiter arbeiten. Aber dann könnte ich nicht nach Taizee und Cluny, wo ich immer mal hinwollte, denn da würde der Zug dran vorbeifahren.
Die vier Kilometer nach I’Isle de Doubs zeigen mir, es hat keinen Wert, ich kann nicht mehr. Ein Mann in einem weißen fensterlosen Lieferwagen hält neben mir, wo ich hinwolle? Zum Bahnhof. Hätte nicht einsteigen sollen. Im Auto versucht er, alter Zigeuner-Trick, oft genug im Polizeibericht beschrieben, mir wertlose Messer für teuer Geld anzudrehen, schließlich tut er so, als wisse er nicht, wo der Bahnhof sei, ich solle die ältere Passantin fragen, neben der er anhält. Ich frage, aber jetzt auf einmal kennt er den Weg zum Bahnhof. Er lässt mich dort aussteigen, doch meine schwarze Tasche mit den IPad fehlt. Ich steige nicht aus. Er sagt, er müsse schnell weiter, ich durchsuche den Fahrerraum des Lieferwagens, sehe zufällig den Bändel meiner Tasche unter dem Sitz und ziehe sie hervor. Er muss die Zeit genutzt haben, als er mich auf die ältere Passantin als Ablenkungsmanöver ansetzte, um die Tasche unter dem Sitz verschwinden zu lassen. 

Von guten Mächten wunderbar geborgen, wandere ich zum Bahnhof weiter. Warum hat der Typ nicht versucht, mir den Rucksack zu stehlen? Ich glaube, ich hätte so getan, als hätte ich nichts bemerkt. Ich fahre mit dem Zug ziemlich hoffnungslos nach Besancon und humple ins nächste Restaurant. Es ist ein Irisch Pub. Muss den Dietrich Bonhoeffer etwas umdichten: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir beim Bier, was kommen mag. 
Also Plan B: Fahrrad kaufen für jetzt, gute Joggingschuhe und leichte Wanderstöcke kaufen für später. Schwere Bergstiefel heimschicken und irgendwie in Joggingschuhen über die Pyräneen kommen. Rüdigers Wanderstock verschenken. Schade drum. Der Weg lehrt dich, wie du ihn gehen musst, so wie dich das Leben lehrt, wie du es leben musst. Du darfst nur nicht vorher aufgeben. Oder, um den Vorrat meiner paar Lebensweisheiten gleich am Anfang der Pilgerreise völlig zu verballern: Es wird immer alles gut. Es wird nur ein einziges Mal in deinem Leben nicht gut. Dann wenn du stirbst. Und dann ist es voll egal.